Eröffnungsrede zum Solidaritätsabend für die Ukraine,
internationales literaturfestival berlin, Haus der Berliner Festspiele, 19. September 2025
Wir sind nicht neutral
Von Deniz Yücel
Fotos: Erik Weiss
Ich begrüße Sie herzlich zu diesem Solidaritätsabend. Keine Sorge: Es folgt keine weitere Danksagung, stattdessen möchte ich Ihnen erzählen, wie wir darauf gekommen sind, diesen Abend zu veranstalten, warum eine Vereinigung von Autorinnen und Autoren überhaupt einen Solidaritätsabend für die Ukraine organisiert. Und ich möchte ein paar Takte dazu sagen, was dieses große Wort – »Solidarität« – überhaupt bedeutet.
Der PEN Berlin ist eine Nichtregierungsorganisation, weshalb es nicht alle Tage vorkommt, dass wir uns von Politikern zu einer Veranstaltung inspirieren lassen. Dieses Mal haben gleich zwei Politiker – auf gegenteilige Weise – diese Rolle übernommen. Der eine heißt Friedrich Merz, der andere Donald Trump.
Manche von Ihnen werden sich bestimmt an diesen Moment im Bundestagswahlkampf erinnern, als die AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel in einer Fernsehdebatte beklagte, Deutschland werde wegen der Waffenlieferungen an die Ukraine von Russland nicht mehr als neutral wahrgenommen. Die Antwort von Friedrich Merz fiel ebenso präzise wie groß aus: »Nein, Frau Weidel, wir sind nicht neutral«, sagte er. Oder besser: Er sagte das nicht einfach, er schmetterte es dahin: »Wir stehen nicht dazwischen. Wir sind auf der Seite der Ukraine und verteidigen mit der Ukraine die politische Ordnung, die wir hier haben.«
Der andere Moment ereignete sich knapp zwei Wochen später in Washington – als US-Präsident Donald Trump und sein Vize J.D. Vance den ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj auf skandalöse Weise abfertigten. Mahatma Gandhi hat einmal auf die Frage, was er von der westlichen Zivilisation halte, geantwortet: »Well, I think it would be a good idea.« Die Praxis der westlichen Zivilisation war beileibe nicht immer ruhmreich. Doch an diesem historischen Februartag demonstrierte Trump, dass seine Regierung auch mit der glanzvollen idea of Western civilization nichts anzufangen weiß.
Diese beiden Momente erinnerten uns daran, dass auch wir – angesichts des blutigen Überfalls der Hamas auf Israel, des schrecklichen Krieges im Gazastreifen und des Widerhalls dieser Ereignisse – die Ukraine zuletzt aus den Augen verloren hatten. Darum also dieser Abend. Denn, Frau Weidel – Frau Wagenknecht, Frau Schwarzer, Herr Stegner, Herr Welzer, Herr Haslinger, you name it – auch wir sind nicht neutral. Wir stehen an der Seite unserer ukrainischen Kolleginnen und Kollegen. Wer zwischen Schlachter und Lamm »neutral« bleiben möchte, ergreift, ob er dies will oder nicht, Partei auf Seiten des Schlachters.
Die Kraft des Wortes und ihre Grenzen
Schriftsteller, Lyriker, Philosophen, Journalisten… – wessen Arbeit das Schreiben ist, glaubt naturgemäß an die Kraft und Bedeutung des geschriebenen Wortes (besonders gerne an die Kraft und Bedeutung des Wortes, das man selber verfasst hat, aber auch sonst). Worte können zu Gewalt aufstacheln oder dazu beitragen, Gewalt zu verhindern. Doch ist die organisierte Gewalt einmal entfesselt, kann sie in aller Regel nicht durch Worte gebändigt werden. Diese Erkenntnis fällt vielen Menschen des Wortes schwer – vor allem, wenn sie das Glück haben, das monströse Geschehen aus einigen hundert Kilometern Sicherheitsabstand verfolgen zu können.
Unsere ukrainischen Kolleginnen und Kollegen haben diesen Luxus nicht. Ungeachtet aller politischen, ästhetischen und sonstigen Differenzen, sie alle werden angegriffen. Und sie alle – deshalb ist das Bild vom Lamm nur bedingt tauglich – verteidigen ihr Land. Ohne diesen heldenhaften Kampf der Ukrainerinnen und Ukrainer, ohne die ukrainische Zivilgesellschaft wäre dieses kleine große – und großartige – Land am Rande Europas so überrannt worden, wie es manch einer, auch mancher in der damaligen Bundesregierung, im Februar 2022 irrtümlich vorhergesagt hat.
Einige ukrainische Kollegen haben sich den Streitkräften angeschlossen, viele versuchen auf andere Weise, durch Wort und Tat zur Abwehr der russischen Aggression beizutragen. So auch der ukrainische PEN. So auch Viktoria Amelina. Dieser Abend gedenkt auch deshalb dieser mutigen Schriftstellerin und Journalistin, die sich einer Organisation zur Dokumentation von Kriegsverbrechen angeschlossen hatte und 2023 bei einem russischen Raketenangriff getötet wurde.
Im Rahmen unserer Möglichkeiten bemühen wir uns als PEN Berlin, unsere ukrainischen Kolleginnen und Kollegen zu unterstützen. Ende 2022 haben wir die Kampagne »Feuerwehrautos für Charkiw« organisiert, mit der wir Rüstfahrzeuge der deutschen Feuerwehr, Generatoren, Wassertanks und andere Hilfsgüter im Wert von rund 200.000 Euro nach Charkiw zu Friedenspreisträger Serhij Zhadan gebracht haben, von dem wir heute Abend noch eine Grußbotschaft hören werden.
Auf meiner Rückreise traf ich den ukrainischen PEN-Präsidenten Volodymyr Yermolenko, der den heutigen Abend beenden wird – nicht in Kiew, sondern im westlichen Donbass. Er war in Begleitung zweier PEN-Kollegen, seiner Frau, der Literaturkritikerin Tetyana Ogarkova, und des Philosophen Vakhtang Kebuladze; zusammen hatten sie Gebrauchtwagen, die der ukrainische PEN irgendwo in Litauen gekauft hatte, an die Front transportiert, wo diese ebenso dringend gebraucht wie innerhalb weniger Wochen verschlissen werden.
Sicher wird der Tag für die philosophische oder geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Krieg kommen, ebenso wie der Tag für die literarische, die künstlerische Verarbeitung kommen wird. Aber, um mit Hegel zu sprechen, »die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug«. Solange aber Tag für Tag ukrainische Zivilisten durch russische Angriffe sterben – und ukrainische Soldaten bei der Abwehr eben dieser Aggression –, zählen im Zweifel ein paar Gebrauchtwagen oder ein Dutzend Generatoren und – natürlich, leider – eine Handvoll Panzer mehr als tausend Worte. Und solange sind unter den Worten jene am wertvollsten, die, auf die oder andere Weise, zur Verteidigung der Ukraine beitragen.
Solidarität erfordert gewichtigen Anlass und persönlichen Einsatz

Das Wort »Solidarität«, ein Vermächtnis der altehrwürdigen Arbeiterbewegung, ist für uns, den PEN Berlin, kostbar. Die Solidarität mit verfolgten Autorinnen und Autoren aus aller Welt, ist der allererste Daseinsgrund des PEN Berlin. Eben darum verwenden wir das Wort mit Bedacht. Solidarität erfordert einen gewichtigen Anlass. Dass, sagen wir, irgendwer irgendwas Fieses im Internet geschrieben hat, ist in aller Regel zu wenig, so wie Solidarität sich auch nicht darin erschöpfen kann, sich im Internet unter Gleichgesinnten Likes und Herzchen zu vergeben.
Solidarität ist dann geboten, wenn jemandem ein gravierendes, existenzielles Unrecht geschieht, das andere – auch solche, die sonst vielleicht nicht allzu viel verbindet, an diesem Punkt zusammenfinden und Solidarität leisten – symbolische, politische, womöglich auch praktische.
Das heißt, Solidarität erfordert nicht nur einen gewichtigen Anlass, sondern auch einen persönlichen Einsatz: Zeit, die man aufbringt Geld, Mühe, vielleicht sogar ein Risiko, das man selbst eingeht. Eine Solidarität, die Gegenleistungen oder gar Fügsamkeit erwartet, ist keine. Selbstverständlich schließt die Solidarität Kritik nicht aus. Das aber gilt für beide Seiten.
Solidarität ist kein rein performativer Akt; solidarisch zu sein bedeutet stets solidarisch zu handeln. Ob man dafür – beispielsweise – an einem Solidaritätsabend mitwirkt oder diesen besucht, ist hingegen nicht so wichtig, wie Sie jetzt vielleicht denken. Insofern möchte ich dann doch einen Dank aussprechen: Ich danke Ihnen allen danken, dass Sie an diesem Abend den Weg in Haus der Berliner Festspiele gefunden haben.
Wolgang Bochert und Nelly Sachs
An dieser Stelle könnte man – Sie vielleicht nicht, aber andere – fragen, ob diese Überlegungen dem Friedensgedanken widersprechen, wie er auch in der Charta des Internationalen PEN niedergelegt ist. Ob diese Überlegungen der Tradition der deutschen Nachkriegsliteratur widerspricht, wie es Wolfgang Borchert keineswegs allein, aber auf besonders prägnante und berühmte Weise in seinem Antikriegsgedicht (»Sag NEIN«) formuliert hat.
Ich finde derlei Einwände legitim, man soll sie vortragen, unbedingt. Ich finde sie nur grundfalsch. Bei Borchert und den meisten Schriftstellern seiner Generation kann man biographisch nachvollziehen, weshalb ihre Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sich um die Kategorien Krieg, Diktatur und Widerstand drehte. Aber ich denke, die entscheidenden literarischen Hinweise für die Hauptlektion aus dem NS-Regime, aus dem Holocaust und dem Vernichtungskrieg in Osteuropa, finden sich in erster Linie nicht bei Wolfgang Borchert, Siegfried Lenz oder Günter Grass, sondern bei Paul Celan und Nelly Sachs.
Es bleibt eine zivilisatorische Großtat, dass die Männer aus Smolensk oder Charkiw, die Auschwitz, und die Männer aus New York oder Alabama, die Buchenwald befreit haben, eben nicht Borcherts Aufforderung folgend »Nein« gesagt, sondern unter größten Opfern die »sinnreich erdachten Wohnungen des Todes« (Sachs) geschlossen und diesem »Meister aus Deutschland« (Celan) mit Waffengewalt das Handwerk gelegt haben.
In seiner Friedenspreisrede fragte Serhij Zhadan vor drei Jahren in der Frankfurter Paulskirche: »Warum werden die Ukrainer dann so oft hellhörig, wenn europäische Intellektuelle und Politiker den Frieden zu einer Notwendigkeit erklären? Nicht etwa, weil sie die Notwendigkeit des Friedens verneinen, sondern aus dem Wissen heraus, dass Frieden nicht eintritt, wenn das Opfer der Aggression die Waffen niederlegt.« Selbstverständlich sind auch wir nicht für den Krieg, wir sind nicht verrückt. Wir sind sehr für den Frieden. Aber wir sind davon überzeugt, dass es in Unfreiheit keinen Frieden geben kann. Und: Wir sind nicht neutral. Wir sind solidarisch.