Eröffnungsrede auf dem ersten Kongress des PEN Berlin »Der Trick ist zu reden« am 2. Dezember 2022
Der Kanarienvogel im demokratischen Schacht
Von Eva Menasse
»From time to time the conscience of the world is stirred and shocked…« Mit diesen Worten begann der erste PEN-»Appell an alle Regierungen« (appeal to all governments) im Jahr 1928. Damals, nur sieben Jahre nach der Gründung in London, gab es bereits 45 PEN Clubs auf fünf Kontinenten: »Von Zeit zu Zeit wird das Gewissen der Welt aufgerüttelt und erschüttert, wenn man von der schlechten Behandlung von Menschen erfährt, die aus politischen oder religiösen Gründen in diesem oder jenem Land inhaftiert sind« – all stimmt noch immer, nur das »von Zeit zu Zeit« klingt inzwischen auf behäbige Weise untertrieben, da sich die Welt doch im Dauerkrisenmodus zu befinden scheint.
Weitere sieben Jahre später, auf dem Katalanischen Kongress im Mai 1935, stand bereits Nazi-Deutschland im Fokus der Proteste. Der internationale PEN Club verabschiedete einen Appell, der die sofortige Freilassung von Ludwig Renn, Carl von Ossietzky sowie des Journalisten Berthold Jacob forderte. Jacob war ein jüdischer Pazifist, der wegen seiner akribischen Recherchen zur heimlichen, illegalen Aufrüstung der Reichswehr so berühmt geworden war, dass man ihn den »Sherlock Holmes der Journalistik« nannte. Er war, wie es in dem PEN-Aufruf heißt, von der Gestapo »rechtswidrig aus der Schweiz entführt worden«. Das Originalschreiben ist von Klaus Mann unterzeichnet.
Das, in aller gebotenen Kürze, beschreibt den Bogen von damals bis heute. Den Verbrechen Deutschlands, das den Zweiten Weltkrieg ausgelöst und den Holocaust ins Werk gesetzt hat, ging eine derart massive Einschränkung von freier Meinungsäußerung und Bedrohung von Schreibenden voraus, dass die Schriftsteller auf der ganzen Welt protestierten.
Bis heute ist das der quasi-evolutionäre Ablauf, wenn Länder von Unrechtsregimes gekapert werden: Erst kommt die Zensur; Journalistinnen, Schriftsteller und Intellektuelle werden Opfer von staatlicher Verfolgung, sie werden verhaftet, verurteilt, ins Exil getrieben. Wenn es schlecht läuft, folgt danach der ganze mörderische Rest, und zwar für alle, die nicht dem Regime angehören, also für weit mehr als nur die Schreibenden, es folgen Unterdrückung, Bespitzelung, Folter, Todesstrafe.
Die Meinungsfreiheit ist der Kanarienvogel im demokratischen Schacht.
Gespräche in Zeiten des Krieges
Deutschland, in dem seit Jahrzehnten Generationen von Akademikern die Geschichte der eigenen Exilliteratur aufarbeiten, hat daher auch eine besondere Verantwortung für die Gegenwart. Vermutlich ist bei allen PEN Kongressen der letzten Jahre und Jahrzehnte die internationale Lage als besorgniserregend und verbesserungswürdig beschrieben worden – dennoch ist der aktuelle Zustand ganz besonders dramatisch. Diktaturen wie China, Uganda, Russland, Iran gehen rücksichtlos gegen die eigenen Bürger vor, verhaften, foltern, morden. In Europa, rund um uns herum, wächst die Zahl der dysfunktionalen, sich selbst blockierenden Demokratien sprunghaft an, mit der Meinungs- und Pressefreiheit ist es in vielen Ländern deutlich schlechter bestellt als noch vor wenigen Jahren. Auch mein Geburtsland Österreich ist nach einer Serie von Politik- und Medienskandalen im »Index der Pressefreiheit« peinlich tief abgerutscht.
Im selben Zeitraum haben die Sozialen Medien zu einer Verschärfung des Diskussionsklimas geführt, haben Digitalisierungseffekte Aggression und Extremstandpunkte eminent befördert; dazu werden wir heute Abend noch von unserem Kollegen und Festredner Ayad Akthar, dem Präsidenten von PEN America, hören.
Und seit dem 24. Februar, seit Russland die Ukraine brutal überfallen hat, herrscht wieder Krieg in Europa. Neben allen existenziellen Sorgen, die dieser Krieg auch hierzulande auslöst, fordert er unsere Diskussionsfähigkeit noch einmal auf eine besondere Weise heraus. Ich bin davon überzeugt, dass einer Organisation wie dem PEN eine wichtige Aufgabe auch darin zukommt, den Austausch von Schriftstellern gerade aus diesen beiden Ländern nicht versiegen zu lassen.
Fehler wurden dabei gemacht und werden wohl auch in Zukunft nicht zu verhindern sein: Es ist ebenso unangemessen, von ukrainischen Schriftstellern regelmäßig zu verlangen, doch zumindest den literarischen Wert von Puschkin bis Dostojewski anzuerkennen, wie jedem russischen Künstler erst einmal den rituellen Anti-Putin-Schwur abzufordern. Und es wäre ebenso verfehlt, ukrainische Autorinnen ausschließlich danach zu beurteilen, ob sie gerade rasend Lust haben, mit russischen Kolleginnen öffentlich zu diskutieren, und seien es noch so bekannte Dissidentinnen. Manche schaffen das wegen der Lage ihrer Familien und Freunde zu Hause gerade nicht. Andere fürchten den Shitstorm in den Sozialen Medien der Ukraine, der sich durchaus an solchen Fällen bereits entzündet hat, was so unterkomplex wie individuell einschüchternd ist.
Aber genau deshalb sind in Zeiten des Krieges die Gespräche, die nur außerhalb des Kriegsgebiets geführt werden können, ein hohes Gut. Sie weiterhin zu ermöglichen, muss unser Ziel bleiben. Und daher müssen wir immer wieder neu ansetzen, neue Möglichkeiten dafür schaffen, neue Formate. Gerade eine verunglückte Diskussion darf nie ein Endpunkt, sondern muss immer der Ansporn sein, es beim nächsten Mal besser zu machen.
Verbesserung, Energiestoß, Heilungsversuch
Dass sich vor fast genau sechs Monaten mit PEN Berlin ein zweiter PEN in diesem Land gegründet hat, oder, je nach Sichtweise, dass sich ein deutschsprachiger PEN wieder einmal gespalten hat (denn es war bei Gott nicht das erste Mal) kann man nun entweder als Symptom der globalen Krisen begreifen, oder ganz umgekehrt, als Antwort darauf, als Verbesserung, Energiestoß, Heilungsversuch. Für die zweite, positivere Auslegung spricht sehr vieles, nicht nur die halbwegs banale Erkenntnis, dass Konkurrenz das Geschäft belebt.
Dafür spricht vor allem der Elan einer anwachsenden Gruppe von Menschen, nämlich euch, unseren Mitgliedern, die eine Mitarbeit in einem Verein bisher für wenig erstrebenswert gehalten haben – und gerade Schriftstellerinnen und Journalisten sind ja, um es mal vorsichtig zu sagen, von Natur aus oft prononcierte Individualisten. Aber das war andererseits immer schon das Paradox des PEN-Gedankens: All die Querköpfe und Streithanseln zusammen ergeben etwas Neues; die Überwindung der vielen inneren Abstoßungen erzeugt eine neue und andere Energie. Damit das nicht reine Symbolpolitik bleibt, braucht es die manchmal krachledernen Niederungen des Vereins, braucht es Statuten, Geld, Organisation, Struktur und ein paar ausformulierte Ziele, die man auch als den kleinsten gemeinsamen Nenner bezeichnen könnte.
Wir alle beim PEN stehen vereint hinter der Idee, jenen Kolleg:innen zu helfen, die unsere Hilfe und Solidarität existenziell und dringend brauchen und hinter deren dramatische Schicksale unsere vielen internen Meinungsverschiedenheiten ganz von selbst zurücktreten. Angesichts all der Lebensgeschichten, die mir als einer bis dahin relativ Ahnungslosen in den vergangenen paar Monaten bekannt geworden sind, wirkt das, was Deniz Yücel so treffend das »Twitter-Handgemenge« nennt, plötzlich ziemlich nebensächlich. Schriftsteller und Publizistinnen, die ihre Heimat verlassen müssen, verlieren ja noch viel mehr als alle anderen Flüchtlinge: In der Emigration laufen sie Gefahr, mit dem Publikum und ihrem Handwerkszeug, der Sprache, auch noch ihre Seinsgrundlage und Kreativität zu verlieren, den Mut und den Lebenswillen. Ihnen wollen wir als Vertreterinnern des PEN Gedankens beistehen, für sie ist diese ganze Unternehmung da.
Deshalb gibt es seit einem halben Jahr den PEN Berlin, nachdem sich der PEN Deutschland im vergangenen Mai als heillos zerstrittener Haufen dargestellt hat.
Weil von Menschen, die nicht dabei waren, immer wieder gefragt wird, warum man nicht einfach den alten PEN reformiert habe, möchte ich heute zum allerletzten Mal sagen: Wer, wie ich, als vorher völlig Unbeteiligte in jenem Saal war, hat verstanden, dass das Präsidium unter Deniz Yücel eben jener dringend nötige Reformversuch war, der dort in Gotha so dramatisch gescheitert ist. Diejenigen von euch, die in den damals folgenden Tagen und Wochen mit dabei waren, als sich so viele zusammentelefoniert und -gezoomt haben, wissen, dass es zu diesem zweiten oder, wenn man den Exil-PEN zählt, genaugenommen dritten PEN in Deutschland nur eine einzige Alternative gegeben hätte: Massenaustritt, Kapitulation, Destruktion, Depression. Ich persönlich hätte das als totale Niederlage eines inzwischen hundert Jahre alten und weiterhin wertvollen Gedankens empfunden. Und ich bin froh und stolz, dass es so nicht gekommen ist. Denn alle, die immer noch von der schädlichen und angeblich vermeidbaren Spaltung reden, könnten doch zumindest wahrnehmen, dass wir am 10. Juni im Literaturhaus Berlin auch etwas Neues begonnen haben, zusammen mit 370 Gleichgesinnten. Inzwischen sind wir über 450, morgen, nach der Mitgliederversammlung mit der nächsten Zuwahlrunde, werden wir voraussichtlich über 500 Mitglieder sein. Wir bauen seither etwas Neues auf, mit Kraft und Willen, mit dem ganz enormen persönlichen Einsatz einiger, aber eben auch mit Spaß und Überzeugung.
Faktum ist, dass PEN Berlin und das PEN Zentrum in Darmstadt gemeinsam schon fast doppelt so viele Mitglieder haben wie noch vor unserer Gründung. Faktum ist, dass ein überwiegender Teil der Mitglieder von PEN Berlin vorher keinem PEN angehört hat, aus welchen Gründen auch immer, und also von uns für den PEN-Gedanken neu geworben werden konnte. Unsere Mitgliederschaft ist jünger, vielfältiger, weiblicher und migrantischer und all das sind doch wirklich hoffnungsvolle Nachrichten in schwierigen Zeiten.
Aufregendes wie aufreibendes halbes Jahr
Wir, unsere neun Board-Kollegen, sowie Deniz Yücel und ich als ihre Sprecher, haben ein so aufregendes wie aufreibendes halbes Jahr hinter uns. Es ist uns gelungen, eine erstaunliche Reihe von relevanten, hochkarätigen Veranstaltungen zu organisieren, angefangen mit der bewegenden Solidaritätslesung für Salman Rushdie am 21. August im Berliner Ensemble.
Es ging weiter mit einem wirklich ehrgeizigen und prominent besetzten Programm auf der Frankfurter Buchmesse, mehreren Solidaritätsabenden für Julian Assange, für die dramatische Volkserhebung im Iran, zur Menschenrechtslage in der Türkei und zum Fall der Whistleblowerin Chelsea Manning. Höhe- und Jahresschlusspunkt ist dieser erste Kulturkongress heute, auf den wir seit Monaten hingearbeitet haben.
Möglich war das alles nur, weil ihr, unsere Mitglieder, uns zur Verfügung gestanden habt, als Diskutantinnen und Moderatoren, als Beraterinnen, Aufmunterer, Einspringerinnen und Aushelfer, heute sogar an der Kasse. Und etliche auch als Begleiterinnen zu Ämtern oder Wohnungsbesichtigungen mit unseren hilfebedürftigen Kollegen.
Ohne euch in dieser großen und vielfältigen Zahl gäbe es keinen PEN Berlin.
Dafür wollen wir euch heute mit diesem Kongress und der Party danach danken, für euer Vertrauen in diese anfangs doch recht unklare Unternehmen und eure Unterstützung, für eure vielen freundlichen, oft enthusiastischen Mails, auf die ihr oft genug wegen Überlastung keine Antwort bekommen habt. Und ich möchte euch sogar für manches Gemecker danken: Manchmal lässt es einen ja den nächsten Fehler vermeiden, oft macht es sogar robuster und hilft beim Fokussieren. Aber immer erinnert es einen daran, was wir sind, nämlich ein Verein voller Individualisten mit höchst unterschiedlichen Zugängen zur Welt.
Und wir danken natürlich all den vielen, die ihren ersten Mitgliedsbeitrag nicht nur tatsächlich überwiesen, sondern noch deutlich aufgestockt haben. Geld wird in nächster Zukunft wichtig bleiben; die Arbeit der nächsten Monate wird darin bestehen, eine längerfristige Finanzierung zu sichern und eine professionelle Struktur aufzubauen. Wir sind dazu in vielen Gesprächen. Und für alle hier im Saal, die keine Mitglieder sind: Spenden sind selbstverständlich begehrt und willkommen und auf unserer Webseite sehr einfach möglich.
Besonders danken wir der Senatsverwaltung für Kultur und Europa und dem Kultursenator Klaus Lederer für die großzügige Förderung dieses Kongresses. Wir danken dem Festsaal Kreuzberg, der von uns nicht die Miete verlangt, die er von anderen bekommen könnte, dasselbe gilt für Muff Potter, die heute abend hier spielen, weil sie die Ideen von PEN Berlin gut finden. Und wir danken ganz besonders Stefan Rudnick, der diesen Kongress mit uns seit Monaten vorbereitet und organisiert und manches Chaos auf unserer Seite stoisch ertragen hat.
Einfach mal eben ein neuer PEN
Hier noch ein paar kleine organisatorische Details: Es gibt natürlich auch heute einige Ausfälle, nicht nur wegen Corona, sondern auch wegen Bahnchaos und Bandscheiben. Umso mehr freuen wir uns, dass dennoch alle Podien vollständig besetzt sein werden, nicht zuletzt, weil Thea Dorn und Tomer Gardi kurzfristig eingesprungen sind. Und noch etwas Wichtiges: Die Festrede unseres Gastes Ayad Akhtar, des derzeitigen Präsidenten von PEN America, wird auf 20 Uhr vorgezogen. Also bitte nicht zu lange in der Pause nach dem letzten Panel bleiben.
Ich persönlich möchte mich zum Schluss von Herzen bei meinem interimistischen Board bedanken, dessen Amtszeit morgen bei der Mitgliederversammlung in der derzeitigen Zusammensetzung zu Ende geht. Wir haben sechs Monate intensivst zusammengearbeitet, wir haben uns manchmal gestritten, meistens aber auf sehr konstruktive Weise diskutiert und so fast immer zu guten Lösungen gefunden. Anfangs hatte wir absolut keine Ahnung, was auf uns zukommen würde, wenn man einfach mal eben so einen neuen PEN gründet, und das war wahrscheinlich besser so.
Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, wann ich zuletzt so viel Verschiedenes in so kurzer Zeit gelernt habe wie im vergangenen halben Jahr. Dafür danke ich, in alphabetischer Reihenfolge, Simone Buchholz für first class Humor, alle Mottos und ihr »Ministerium für Empathie«, das sie in unserem Board eingerichtet hat, Alexandru Bulucz für seine Nachdenklichkeit und seinen sanften Widerstand zur immer richtigen Zeit, Joachim Helfer für all die superverlässliche Graubrot-Arbeit mit Zahlen, Daten, Fakten und Anträgen, für die die meisten Schriftsteller weder Nerven noch Talent haben, Konstantin Küspert für die einzigartige Verbindung von Witz und Technik, Ralf Nestmeyer für die zuverlässige Organisation unserer Online-Veranstaltungen, Ronya Othmann für ihr Weltwissen und ihre ruhige Unerschrockenheit in großen Debatten, Mithu Sanyal für eine bestimmte Intervention in einer wichtigen Sitzung mit PEN International, Elke Schmitter für Coaching, Office Backup, Analyse und Freundschaft, Sophie Sumburane für ganz viel praktischen und institutionellen Sachverstand. Und ich danke meinem Co-Sprecher Deniz Yücel, der, wenn er will, die Welt mal eben kurz in die andere Richtung zu drehen vermag. Selten hat das Wort Mitstreiter so gepasst.
Ich wünsche uns allen einen wunderbaren und beflügelnden Kongress. Vielen Dank.