Üblicherweise werden solche Pressemitteilungen erst verfasst, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist. Vielleicht ist es sinnvoller, sich vorher zu Wort zu melden.
Die Rede ist von der palästinensischen Schriftstellerin Adania Shibli, die nächste Woche auf der Frankfurter Buchmesse für ihren Roman »Eine Nebensache« mit dem LiBeraturpreis 2023 ausgezeichnet werden soll – was ohne den bestialischen Angriff von Hamas-Terroristen auf Israel mit weit über tausend Toten wohl ohne allzu große Aufregung über die Bühne gegangen wäre. Jetzt aber mehren sich in deutschen Medien Stimmen, die angesichts der Verbrechen in Israel diese Auszeichnung für »unerträglich« halten oder als »Taktlosigkeit« bezeichnen.
Selbstverständlich ist diese Kritik legitim. Doch sie muss sich auch ihrerseits kritisieren lassen. Dazu hielt PEN-Berlin-Sprecherin Eva Menasse fest: »Kein Buch wird anders, besser, schlechter oder gefährlicher, weil sich die Nachrichtenlage ändert. Entweder ist ein Buch preiswürdig oder nicht. Die schon vor Wochen getroffene Entscheidung der Jury für Shibli war nach meinem Dafürhalten eine sehr gute. Ihr den Preis zu entziehen, wäre politisch wie literarisch grundfalsch.«
Shiblis Roman behandelt die historisch verbürgte Massenvergewaltigung und Tötung einer jungen Beduinin durch israelische Soldaten im Jahr 1949. Dass an diesem Ort der Handlung, dem heutigen Kibbuz Nirim, nun auch die Hamas angegriffen hat, sei eine »tragische Koinzidenz«, die in brutaler Weise vor Augen führe, dass dieser blutige Konflikt seit 75 Jahren andauere, sagte PEN-Berlin-Sprecher Deniz Yücel.
Der LiBeraturpreis ist die erste Auszeichnung für »Eine Nebensache«. Zuvor war der Roman bereits für den amerikanischen National Book Award sowie für den International Booker-Prize nominiert. »Diesen Roman allein im Kontext der deutschen Debatten zu diskutieren, ist engstirnig«, sagte Menasse.
Nach dem Massenmord der Hamas an hunderten Zivilisten fehle es auffällig und schmerzlich an palästinensischen und arabischen Stimmen, die diese Verbrechen mit unmissverständlichen Worten verurteilen. »Aber damit kritische Intellektuelle dies tun können, darf man sie nicht von vornherein verdächtigen und ausschließen. Ihre eigenen Erfahrungen mit der israelischen Besatzungspolitik müssen sie beschreiben dürfen, unter der die Palästinenser so leiden, wie Shibli es in ihrem herausragenden Roman schildert«, so Menasse.
Yücel ergänzte: »Man kann die Darstellungen des Romans für treffend oder zu einseitig halten. Jedenfalls ist ›Eine Nebensache‹ weit von den eindeutig antisemitischen Zeichnungen entfernt, die auf der Documenta zurecht für Kritik sorgten. Und wir haben immer gesagt, dass die Freiheit des Wortes im Zweifel auch das dumme Wort umfasst, die Freiheit der Kunst auch jene der bescheuerten Kunst. Natürlich gibt es Grenzen. Aber um unverrückbare Grenzen zu ziehen und in eindeutigen Fällen wie bei Jubelfeiern für einen Massenmord in aller Deutlichkeit und gegebenenfalls vereins-, straf- und ausländerrechtliche Konsequenzen anzuwenden, muss diesseits dieser Grenze so viel wie möglich sagbar sein.« Das gelte für den Umgang mit dem Nahost-Konflikt wie für alle anderen kontroversen Themen. »Das etwas sagbar sein muss, bedeutet nicht, dass es außerhalb der Kritik steht. Die Buchmesse sollte der Ort sein, solche Debatten zu führen – und nicht, sie abzuwürgen«, so Yücel.
PEN Berlin. Wir stehen im Wort.