Deniz Yücel, Der Fehler im Kampf gegen Antisemitismus

Beitrag von Deniz Yücel, Welt, 26. Januar 2023

Bekenntniszwang und moralischer Rigorismus

Kann man Bekenntnisse gegen Antisemitismus per Gesetz erzwingen? Nein – das ist die Lehre aus dem Scheitern der Berliner »Antidiskriminierungsklausel«. Was das Desaster mit einem moralischen Rigorismus zu tun hat – und warum der Antisemitismus-Diskurs immer woker wird.

Deniz Yücel auf der Lesung »Nie wieder ist jetzt«, Deutsches Theater, 5. November 2023. Foto: PEN Berlin

Staatliche Fördergelder solle man »nicht von einer bestimmten politischen Position« abhängig machen; die Idee des Berliner Kultursenators Joe Chialo (CDU), ein Bekenntnis zur Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zur Bedingung von öffentlichen Zuwendungen zu machen, sei »McCarthyismus«.

Diese Kritik stammt nicht von der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux oder der Genderwissenschaftlerin Judith Butler, die jüngst mit ihrer Unterschrift unter einem Aufruf zum Kulturboykott Deutschlands auf sich aufmerksam machten, auch von keinem anderen der üblichen Verdächtigen, die den Massenmord vom 7. Oktober zu einem Akt des antikolonialen Widerstands erklären und die Israelis verurteilten, noch ehe der erste Luftangriff gegen die Hamas im Gazastreifen geflogen war.

Das Zitat stammt vom US-amerikanischen Rechtsanwalt und Autor Kenneth S. Stern, der vor fast zwanzig Jahren ebendiese »Arbeitsdefinition« maßgeblich mitverfasst hat. Das Interview, in dem Stern beklagte, die IHRA-Definition werde missbraucht, »um jemanden aus vielerlei Gründen als antisemitisch abzuqualifizieren, auch für Kritik an Israel«, erschien am Montag, dem 22. Januar 2024 in der Berliner Zeitung. Wenige Stunden darauf gab Chialo bekannt, die geplante »Antidiskriminierungsklausel« werde vorerst nicht zur Anwendung kommen.

Erst Ende Dezember hatte die Senatsverwaltung für Kultur (Jahresbudget: eine Milliarde Euro), eine Klausel eingeführt, Zuwendungsempfänger, Institutionen ebenso wie Einzelpersonen, eine »Selbstverpflichtung« abzuverlangen. Deren Inhalt: ein Bekenntnis zu einer »vielfältigen Gesellschaft und gegen jedwede Diskriminierung und Ausgrenzung sowie gegen jede Form von Antisemitismus gemäß der Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) und ihrer Erweiterung durch die Bundesregierung«.

Das ist der Rechtsstaat

Dies ist nun ausgesetzt. Aber nicht, wie manche argwöhnten, weil der Senator vor einem linken Kulturbetrieb eingeknickt wäre. Weder dürften die rund 4000 Unterschriften aus der Kulturbranche den Ausschlag für diese Entscheidung gegeben haben noch die Kritik von einem Verfasser der IHRA-Definition. Eine ebenso untergeordnete Rolle dürfte gespielt haben, dass Berlin mit den direkten und indirekten Folgen dieser Klausel den Rang einer weltweit führenden Kulturmetropole riskieren könnte, den sich die deutsche Hauptstadt in den vergangenen zwanzig Jahren trotz all ihrer partiellen Dysfunktionalität und notorischen Schlonzigkeit (und auch deswegen) erarbeitet hat.

Entscheidend dürften die juristischen Einwände sein: »Wenn es berechtigte Zweifel gibt, ordne ich meinen Willen der Verfassungsmäßigkeit unter«, sagte Chialo. Und es spricht für ihn, dass er einen Fehler schnell korrigiert hat, anstatt diese Entscheidung dem nächstbesten Verwaltungsgericht zu überlassen.

»Sollen Antisemiten auch noch Staatsknete kriegen?«, könnte man sich empören. Aber es ist so: Noble Absichten reichen nicht. Die Mittel müssen verhältnismäßig sein und dürfen sich nicht über Grundrechte und Verfahrensregeln hinwegsetzen. Klingt lähmend, ist aber der Rechtsstaat.

Ein Problem bei der Berliner Klausel: die Absicht, die IHRA-Definition, die nie als rechtlich verbindliche Formel gedacht war, zur Fördervoraussetzung zu erheben. »Die Definition des Antisemitismus ist selbst Gegenstand der Wissenschaft; ihr kann eine bestimmte Definition nicht vorgeschrieben werden«, hieß es in einem Beitrag des Verfassungsblogs in dem die Autoren – darunter der Straf- und Völkerrechtler Kai Ambos – mit Blick auf die Meinungs-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit schwerwiegende Bedenken vortragen.

Allerdings war die Sache mit der IHRA-Definition nur ein Detail, wie Chialo auch immer betonte, dass es eine »Antidiskriminierungsklausel« sei, mit der man gegen »rassistische, antisemitische, queerfeindliche oder anderweitig ausgrenzende Ausdrucksweisen vorgehen wolle. Und auf dieser allgemeinen Ebene zeigt sich, dass das Problem auch dann bliebe, wenn man auf die IHRA-Definition verzichtet: Auch ein solches Bekenntnis zu fordern, ist ein Eingriff in die Grundrechte. Meinungsfreiheit bedeutet nicht nur: »Ich darf etwas sagen.« Sie bedeutet auch: »Ich muss nix sagen.«

Ein Grundsatz gilt immer

Ja, man kann die Glaubwürdigkeit von Leuten anzweifeln, die stets zur Stelle sind, wenn es gilt, Rassismus anzuprangern, denen aber nichts dazu einfiel, dass auf deutschen Straßen der Massenmord der Hamas gefeiert wurde. Und man kann darauf bestehen, dass, wer über Israelhass nicht reden möchte, auch vom Judenhass schweigen solle, wie Jean Améry bereits 1969 den vermeintlich »ehrbaren Antisemitismus« beklagte, der im Gewand des Antizionismus daherkomme. Auf einem anderen Blatt steht indes, ob der Rechtsstaat derlei politische Bekenntnisse abverlangen darf, zumal politische Fragen Auslegungssache sind, während Verwaltungsakte inhaltlich hinreichend bestimmt« sein müssen.

In Ausnahmen ist dies zulässig, in Beamtenverhältnissen etwa, auch bei Einbürgerungen. Doch schon die Extremismusklausel«, die Kristina Schröder (CDU) für Fördermittel des Bundesfamilienministeriums eingeführt hatte, befand das Verwaltungsgericht Dresden 2012 für rechtswidrig. Die Einverständniserklärung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung« wurde erst geändert, dann abgeschafft. Man verteidigt den Rechtsstaat nicht, indem man ihn abschafft, wie man die offene Gesellschaft nicht bewahrt, indem man sie einengt. Dieser Grundsatz gilt immer, natürlich auch im Umgang mit der AfD.

Nun ließe sich einwenden, dass es keinen Anspruch auf Kultursubventionen gibt und derlei Klauseln daher keine Zensur darstellen. Zugleich setzt die Kunstfreiheit staatlichen Vorgaben enge Grenzen: Ob sich das klamme Berlin drei Opernhäuser leistet, ist Sache der Landespolitik, ob dort die »Zauberflöte« oder »Einstein on the Beach« inszeniert wird, nicht.

Und wer Kultursubventionen kritisiert, sollte nicht unterschlagen, dass etliche andere Branchen – von der Automobilindustrie bis zur Landwirtschaft – ebenfalls von milliardenschweren Subventionen und Steuerbegünstigungen profitieren und der Staat noch jedes Mal mit Steuermitteln zur Hand war, wenn sich ein paar Investmentbanker (»Systemrelevanz«) verzockt hatten. Und die Förderung der Landwirtschaft schreiben sechs Landesverfassungen vor, woraus man vielleicht, wie jüngst die rebellierenden Bauern, ein Recht auf subventionierten Agrardiesel herleiten mag, aber in gleich 15 Landesverfassungen ist die Kulturförderung als Staatsziel verankert. (Nur in der Hamburger Landesverfassung nicht, die aber keine Grundrechte nennt und sich eher wie eine Hausordnung liest.)

Kein »Schweigen« ohne »dröhnen«

Mit der Rücknahme von Chialos Klausel hat sich das Thema jedenfalls nicht erübrigt, zumal jüngst auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) erklärte, sie unterstütze es, wenn vom Bund geförderte Einrichtungen sich einen »Code of Conduct«, also einen Verhaltenskodex gegen Antisemitismus geben würden. Dass irgendeine Regelung dringend notwendig ist, scheint hingegen ausgemachte Sache.

Das nämlich ist das Ergebnis der seltsamen Diskussion, die in Deutschland – und in dieser Form nur hier – bald nach dem Massenmord der Hamas einsetzte. In deren Mittelpunkt: die Frage nach vermeintlich oder tatsächlich fehlenden Bekenntnissen, Erklärungen, Verurteilungen.

Zwar ließen sich – abgesehen von ein paar Likes indonesischer Ex-Documenta-Kuratoren oder einer Handvoll abstoßender Instagram-Postings von Künstlern, die in aller Welt tätig sind und seit relativ kurzer Zeit überhaupt erst in Berlin leben – keine belastbaren Belege für die Annahme finden, der deutsche Kulturbetrieb sei auffallend antisemitischer als der Rest der Gesellschaft. Aber man fand bald Ersatz in einer Debatte, deren Ausgangspunkt in eins fiel mit ihrem Fazit: dem Schweigen des Kulturbetriebs. Genauer: dem »dröhnenden Schweigen des Kulturbetriebs. Der Zusatz »dröhnend« hat sich seither an das Wort »Schweigen« so angekettet wie »billig« an »Klischee«, »dumpf« an »Stammtischparole« oder weiland »Bahnchef« an »Mehdorn«. Wer »Schweigen« sagt, muss auch »dröhnend« sagen, sonst gildet’s nicht.

Und diese Kritik wurde nicht von außen an den deutschen Kulturbetrieb herangetragen, sie kam aus ihm selbst. Den Anfang machte das Feuilleton, übrigens nicht nur in der Welt oder der NZZ, sondern ebenso in der taz oder dem Deutschlandradio Kultur.

Schon das Selbstbild erforderte, so schnell wie möglich etwas zum 7. Oktober zu sagen. Da einem aber sonst nichts einfiel, machte man kurzerhand das Gerede über das »dröhnende Schweigen« des Kulturbetriebs zum genuinen Beitrag des deutschen Kulturbetriebs. In diesem vermeintlichen Schweigen meinte man nun alles Mögliche zu erkennen: mangelnde Empathie für die Opfer, gar heimliche Sympathie für »From the River to the Massaker«.

Ein anschauliches Beispiel für diese Mischung aus Hilflosigkeit, Bekenntnisdrang und Übersprungshandlung war der Ende Oktober veröffentlichte Offene Brief, in dem 1400 Unterzeichner dem »Literaturbetrieb« vorwarfen, er habe zum Hamas-Massaker geschwiegen.

Der logische Fehler, dass es sich bei den Unterzeichnern um – teils namhafte – Vertreter ebendieses Literaturbetriebs handelte, sie also den Brief an sich selbst adressiert hatten, fiel keinem auf, wie auch niemand die Frage stellte, warum man nicht einfach eine Solidaritätsadresse an die Juden in Deutschland oder den Staat Israel verfasst hatte, anstatt »den« Literaturbetrieb anzuklagen.

Offene Briefe, offene Flanken

Die allermeisten hätten aus dem hilflosen, aber ehrenwerten Bedürfnis, irgendwas zu tun, sicher auch eine solche Erklärung unterschrieben. Aber die Initiatoren hätte man schon mal fragen können, warum sie die anonyme Anklage vorzogen: weil dies größere Aufmerksamkeit versprach? Weil die J’accuse-Nummer mehr hermacht? Oder weil sie davon überzeugt waren, eine Minderheitenmeinung zu vertreten? Schließlich ist beim Nahost-Thema ausnahmslos jeder davon überzeugt, die Mehrheit denke anders als man selber. Von diesem Offenen Brief blieb jedenfalls nicht hängen, dass 1400 Leute aus dem Literaturbetrieb Solidarität mit Juden geäußert hatten, hängen blieb, na klar, die Klage über das Schweigen.

Dabei ist der Befund, dass ein nennenswerter Teil des Kultur- und Universitätsbetriebs mit seiner Romantisierung der palästinensischen Sache, mit Verflachungen und Einseitigkeiten zumindest eine offene Flanke für Judenhass habe, nicht falsch. Nur gilt diese Kritik am allerwenigsten für dieses Land; hier zeigen sich derlei Tendenzen nur in besonders internationalisierten Segmenten, der bildenden Kunst etwa, mit Abstrichen auch in der Clubszene.

Aber in Deutschland sind diese Tendenzen weit davon entfernt, tonangebend zu sein. Die deutsche Erinnerungskultur mag allzu ritualisiert sein und die immer gleichen Phrasen wiederholen. Doch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und als Folge der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um diese – von der Debatte zum Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963-65 über die Kritik der 68er-Bewegung bis zu den erinnerungspolitischen Debatten der 1980er-Jahre – hat sich hierzulande, nicht nur, aber insbesondere in der kulturellen Elite und im Bildungsbürgertum, tatsächlich eine Sensibilität in Sachen Antisemitismus entwickelt. Vor 40 Jahren war Jürgen Habermas‘ Vorschlag aus dem Historikerstreit, nationale Identität nicht aus der Relativierung und Abwehr des Holocaust, sondern aus »der kritischen Aneignung der eigenen Geschichte« zu beziehen, noch umstritten, heute ist seine Idee Allgemeingut – genau deshalb beklagen Leute wie Björn Höcke das, was sie »Schuldkult« nennen.

Nicht ausschließlich, aber insbesondere mit Blick auf Sachsen wie auf die Sonnenallee ist das Warnen und Mahnen weiterhin angebracht. Aber wer sich – ob nun aus politischen oder beruflichen Interessen, aus intellektueller Bequemlichkeit oder zum moralischen Distinktionsgewinn – in der Geste des Warnens und Mahnens einrichtet, läuft Gefahr, die Wirklichkeit verzerrt wahrzunehmen. Die Probleme sind auch so groß genug.

Die proisraelische Linke

Was für den Kulturbetrieb gilt, gilt auch für das verwandte Thema linker Antisemitismus. Selbstverständlich gibt es den. Aber wer in den vergangenen Monaten darüber sprach, verwies entweder auf Beispiele aus dem Ausland, etwa auf abstoßende Demonstrationen an US-Universitäten. Oder er kramte in der Geschichte: von der »Schlageter-Linie« der Weimarer KPD bis zur Selektion jüdischer Passagiere bei einer Flugzeugentführung durch deutsche und palästinensische Linksterroristen in Entebbe 1976. Alles richtig. Nur eben anderer Ort oder andere Zeit und keine Beobachtungen aus der deutschen Gegenwart.

Keine andere Linke der westlichen Welt, so bilanzierte der Politikwissenschaftler Martin Kloke 1990 in der ersten wissenschaftlichen Untersuchung zum Thema »Israel und die deutsche Linke«, sei vor dem Sechstagekrieg »so proisraelisch gewesen wie ausgerechnet die bundesdeutsche. Und keine andere ist nach 1967 so exzessiv antiisraelisch in Erscheinung getreten.« Doch jede aktuelle Studie müsste zu dem Ergebnis kommen: Keine andere Linke der Welt ist heute grosso modo so proisraelisch wie die deutsche.

Die Sozialdemokratie hatte die antizionistische Wende von 1967 ohnehin nicht vollzogen, während ein Großteil der 68er und ihrer Nachfolger diese Wende ab Mitte der 1980er-Jahre, spätestens aber nach dem Golfkrieg von 1991 selbstkritisch aufarbeitete. Daraus bildete sich sogar eine explizit proisraelische Strömung, auch innerhalb der radikalen Linken. Die mag eine Minderheit sein, aber Linke mit einer einseitigen Haltung sind hierzulande – anders als sonst überall – ebenfalls eine Minderheit innerhalb der Linken. Diese deutsche Besonderheit zeigt sich etwa in den Unterschieden zwischen Luisa Neubauer und Greta Thunberg. Oder in der Tatsache, dass es hierzulande keine Entsprechung zu prominenten linken Israelfeinden wie Jeremy Corbyn (Großbritannien), Jean-Luc Mélenchon (Frankreich) oder Yanis Varoufakis (Griechenland) gibt – nein, nicht mal Sahra Wagenknecht.

Dieser Sinneswandel offenbart sich auch innenpolitisch: In einer Forsa-Umfrage von Mitte Oktober meinten 87 und 84 Prozent der Wähler von SPD und Grünen, es sei richtig, dass sich die Bundesregierung »klar aufseiten Israels gestellt« habe. (Zum Vergleich: CDU/CSU: 73 Prozent Zustimmung, FDP: 68, AfD: 49, Linkspartei nicht erfasst.)

Zehn mal zehn Meter in Kassel

Natürlich existiert auch in der deutschen Linken der alte, antiimperialistische Israelhass fort und vermischt sich mit einem hippen, postkolonialen. Aber der Antisemitismus ist heute in der deutschen Linken nicht signifikant stärker ausgeprägt als in anderen politischen Milieus. Genauso verhält es sich mit dem hiesigen Kulturbetrieb.

»Ha, und was ist mit BDS?«, wird an dieser Stelle einer rufen – und unfreiwillig das Stichwort liefern, das diese These bestätigt. Denn anders als im angloamerikanischen Raum gibt es hierzulande niemanden von Rang und Namen, der sich für BDS, also für den kulturellen und akademischen Boykott Israels einsetzt. Hier dreht sich der Streit allein um die abgeleitete Frage, wie man mit Leuten – in der Praxis: mit ausländischen Künstlern oder Wissenschaftlern – umgehen soll, die sich als Unterstützer der antiisraelischen BDS-Kampagne hervorgetan haben.

Doch ähnlich wie beim »dröhnenden Schweigen« gibt es auch hier ein Ersatzobjekt: Wer dem Kulturbetrieb ein Antisemitismusproblem attestieren will, verweist in Ermangelung echter BDS-Unterstützer auf den Offenen Brief der »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit«, mit dem über 20 große Institutionen und über 1500 Unterzeichner auf die Bundestagsresolution gegen die BDS-Kampagne aus dem Jahr 2019 reagiert hatten. Man wies den Boykott Israels zurück, aber ebenso das Ansinnen, BDS-Unterstützer zu boykottieren.

Diesen Leuten kann man vorwerfen, dass sie die Wirkmächtigkeit der BDS-Kampagne unterschätzen. Oder dass sie im Namen des Austauschs mit dem »Globalen Süden« antisemitische Tendenzen auch dann noch kleinreden, wenn diese auf zehn mal zehn Metern über Kassel ausgestellt werden. Man kann der »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit« aber redlicherweise nicht vorwerfen, was im Aufruf abgelehnt wurde: den Boykott Israels.

»Die Wokeness ist am Ende«, frohlockte Denise Bucher jüngst NZZ. Für ein endgültiges Urteil ist es noch zu früh, aber zumindest im deutschen Kulturbetrieb dürfte diese ideologische Welle künftig einen schweren Stand haben. »Bis zum 7. Oktober wurde in Berlin kein Kulturprojekt gefördert, was nicht Postkolonialismus im Programm hatte, seit dem 7. Oktober wird nur noch gefördert, was einen großen Bogen um diesen herum macht«, so formuliert es die taz-Redakteurin Doris Akrap. Dafür braucht es keine Klausel.

Und noch etwas lässt sich seither beobachten: Wie viele derer, die zuvor vor einer »Verengung des Meinungskorridors« warnten und Cancel Culture anprangerten, jetzt gar nicht genug Bekenntnis und Haltung kriegen können, während einige derer, die zuvor jeden, der nicht ihre intersektionale (»woke«) Weltsicht teilte, als Faschisten beschimpften, plötzlich Meinungsvielfalt total gut finden. Aber die meisten haben das Rassismus-Schlimmfinden ergänzt durch das Antisemitismus-Schlimmfinden.

Empirie und Alarmismus

Dabei sind die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Diskursen größer, als es den Wokeness-Kritikern von gestern und den Antisemitismus-Kritikern von heute lieb sein dürfte: die fragwürdigen Analogien zwischen Deutschland und anderen Ländern, der Eifer, noch in feinsten Kapillaren Spuren eines »falschen Bewusstseins« ausfindig zu machen und dieses maximal aufzubauschen, die beliebte Rede vom »strukturellen« Irgendwas, das hübsch theoretisch klingt, aber es mit der Empirie nicht genau nimmt, der Hang zum Alarmismus, der keinen historischen Fortschritt anzuerkennen bereit ist, das Markierungswörtchen »problematisch«, die Neigung, rationale und objektive Kategorien durch emotionale und subjektive zu ersetzen, Empörungsbereitschaft, Bekenntniswut, Kontaktschuld, moralischer Rigorismus …

Und so, wie es stets verlockender war, Rassismus in alten Kinderbüchern aufzuspüren, anstatt sich für bessere Schulen einzusetzen, so lohnend ist es, den Kampf gegen den Antisemitismus zu verlagern – lohnend nicht nur für den Kulturbetrieb, sondern auch für die Politik.

Wenn Olaf Scholz und Frank-Walter Steinmeier einen Wortführer des globalen Hasses auf Israel empfangen, nämlich den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, gilt dies als Realpolitik, wenn Wirtschaftsminister Robert Habeck keine Sekunde darüber nachdenkt, den Deal mit den Hamas-Sponsoren aus Katar aufzukündigen, ist es ökonomische Notwendigkeit.

Das Antisemitismus-Problem eines beachtlichen Teils der muslimischen Einwanderungsgesellschaft ist zwar groß, aber nicht einfach zu lösen, auch nicht ausländerrechtlich. Bisher reicht das Gesetz nicht einmal, um die als Moschee getarnte Hamburger Agentur des Mullah-Regimes endlich zu schließen, geschweige denn Erdogans Religionsbehörde tatsächlich rauszuwerfen. Und das Wort von der »Staatsräson«, neben dem »A« im Namen der AfD das zweite große Vermächtnis von Angela Merkel, ist leicht gesagt, solange man nicht erläutern muss, was das bedeutet. Zum Beispiel: Israel in einem Krieg mit der libanesischen Hisbollah oder gar mit dem Iran in jeder Hinsicht beizustehen?

Wie verlockend ist es angesichts solcher kolossalen Probleme, den Kampf gegen Antisemitismus und Israelhass dort zu führen, wo man glaubt, ihn gewinnen zu können. Beim Augsburger Brecht-Festival etwa, dessen Leiter – Problem, Problem! – Julian Warner mal, nein, keinen BDS-Aufruf, sondern den Aufruf der »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit« unterzeichnet hat.

Was sich hier vollzieht, ist eine kollektive Übersprungshandlung, die sich auch an anderen Stellen beobachten lässt und durch die digitale Kommunikation verstärkt wird: eine Verschiebung weg vom politischen und ökonomischen, hin zum kulturellen und symbolischen Feld. Dorthin, wo die Lösungen einfach, die Effekte krachend und die Kosten niedrig sind. Die Berliner Klausel war ein verwaltungsjuristischer Ausdruck dieser Übersprungshandlung. Die Klausel ist weg, das Bedürfnis, das sie hervorgebracht, nicht.

Deniz Yücel ist Korrespondent der Welt und gemeinsam mit der Schriftstellerin Eva Menasse Sprecher der Autorenvereinigung PEN Berlin.

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