Keynote Wiesner

Keynote zu Georges-Arthur Goldschmidt

Die Schuld, überlebt zu haben

Von Herbert Wiesner

Herbert Wiesner bei seiner Rede. Foto: Hartwig Klappert

Liebe Freundinnen und Freunde,
liebe Gäste,

meine Keynote spricht von den Qualen des Überlebens, von Erfahrungen unseres ältesten Mitglieds und Mitgründers Georges-Arthur Goldschmidt. Und da ich selbst zu den Alten zähle, möchte ich in diese Keynote auch eine Zukunft legen: Ich widme sie den jungen iranischen Frauen, die ihre Stirn, die ihren Kopf freihalten wollen.

Jürgen Arthur Goldschmidt, geboren als Sohn eines hamburgischen Oberlandesgerichtsrats im Mai 1928 in Reinbek bei Hamburg, hatte das Privileg, nicht mit einem der Kindertransporte, sondern von seinen Eltern ins Ausland geschickt zu werden.

Er war gerade zehn Jahre alt geworden, als seine »Aussetzung« nach Florenz begann; sein vier Jahre älterer Bruder begleitete ihn zunächst. Die Eltern hatten ihren Kindern Bilder gezeigt von den Türmen und Kuppeln der toskanischen Metropole. Die Grand Tour etwas älterer Söhne hätte so beginnen können. Das »J« hatte man noch nicht in ihre Pässe gestempelt. Sie hätten auch nicht gewusst, was es bedeutet, doch ihr Leben galt in Deutschland als »unwert«. Als der Zug den Hamburger Hauptbahnhof verließ, hatten Vater und Mutter »die Hüte abgenommen, damit das Kind sie ein letztes Mal so sah, wie sie waren. Auf dem Bahnsteig, der vor ihnen ganz schmal wurde, wurden sie immer kleiner«.

Georges-Arthur Goldschmidt hat diesen traumatischen Abschied, die Qualen des Sich-Versteckens, die Schmach der Demütigungen seit dem 1982 von Peter Handke übersetzen Roman »Der Spiegeltag« in mehreren Büchern und in seinen beiden Schreibsprachen oftmals variiert und moduliert, vor allem in den Erzählungen »Die Befreiung« und »Der Ausweg«. Er hat – fast – nur diesen Stoff, und er hat keine Wahl. Wer sich der Eindringlichkeit und dem ungeschützten, doch nie formlosen Selbstbekenntnis dieses französisch-deutschen Schriftstellers zu öffnen bereit ist, liest ganze Stränge des einzigartigen Stoffes atemlos auch zum wiederholten Mal. Goldschmidts Leser erfahren die Wiederholungen als besonderen Reiz der Intensivierung, der Vergegenwärtigung und auch der künstlerischen Fiktionalisierung.

Die Repetition objektiviert und ritualisiert das individuelle Leid, das auf Fortsetzung drängt, weil sonst die Schuld gegenüber den Opfern der Shoah unerträglich wäre. Der 1934 ebenfalls über Italien geflohene Psychiater und Psychoanalytiker William G. Niederland hat dieses »Survivor Syndrome« als den an den Überlebenden begangenen »Seelenmord« beschrieben.

Der entfernt mit den Mendelssohns und den Pringsheims verwandte Georges-Arthur hat seinen rettenden »Zauberberg« im März 1939 in der »Absonderung« des Collège Florimontane bei Sallanche im « gemacht, die sein sehr spät erst entstandenes literarisches Werk geprägt haben. Etwa Gleichaltrige wie Enzensberger oder Christa Wolf, die nicht fliehen mussten, hatten um 1980 schon den Zenit ihres Schaffens erreicht.

Seinen Lesern nichts erspart

Meral Simsek (li.) und als Übersetzer Deniz Yücel auf dem Panel »Gewalt, Erinnerung, Literatur«. Foto: Hartwig Klappert

Im Alterswerk »Der Ausweg« erscheint dem Zögling der Dachstuhl des Internats als ein umgestülpter Schiffsrumpf. Er sieht sich darin als Schiffsjungen, den die Matrosen missbrauchen und schlagen. In Wirklichkeit ist er wieder einmal in eine Dachkammer eingeschlossen worden.

Obwohl er fast erwachsen und der Krieg zu Ende ist, straft ihn die Aufseherin mit Ruten, dem Rohrstock und einem stählernen Lineal, auf dessen Kante er knien muss. Noch nackt von der Züchtigung, wird er für drei Tage in den Karzer gesperrt, bei Wasser und Brot. Oder man setzt ihn im Winter vor die Tür. Da er als Waise gilt, gibt es niemanden, von dem er Fäustlinge und Winterkleidung hätte bekommen können. Er ist stolz darauf, dass die Mitschüler sich seiner frierenden Hände schämen. Die Vorstellung, andere könnten sich über »seine blauvioletten Striemen lustig machen«, quält ihn, dennoch erscheint ihm die Züchtigung als Privileg, das »sonst nur jungen Aristokraten erteilt wurde«.

An anderer Stelle sagt der Erzähler, man habe ihm »die Ehre der Strafe« erwiesen. Halb entblößt wird er den Blicken der Mitschüler »vorgeführt«. Traum und Traumata verschmelzen bei Goldschmidt zu einem Leid, aus dem die Strafe als der einzige Ausweg empfunden wird. In der Selbstvergewisserung durch Strafe deutet sich so etwas wie die Erfahrung von »Heiligkeit« an. Der Held, der sich auch den Namen Arthur Kellerlicht gibt, registriert seine Passion und stopft die Notizzettel in die Fugen einer Mauer. Erst der Schmerz führt ihn zu einer rituellen Form jüdischen Glaubens. Viele, aber nicht alle erlittenen Qualen stimmen mit dem überein, was wir aus den Berichten der Missbrauchsopfer kirchlicher und weltlicher Heime erfahren.

Der Schriftsteller, der so sanft formulieren und dann auch modulieren kann, hat seinen Lesern nichts erspart, auch nicht den unfreiwilligen eigenen Anteil an der Schmach, ob er nun Masturbation oder Bettnässen heißt. Die Küchenarbeit, die Arthur Kellerlicht als »Lisette« mit Schürze unter der Anleitung der fröhlichen Köchin zu leisten hat, beginnt, für den Internatszögling »zur Delikatesse zu werden«. (Ihre Nachfolgerin, die hagere Köchin, hätte ihn dann beinahe bei der deutschen Besatzungsmacht denunziert.)

Das Seelenleben der Sprache 

Eva Menasse am Rand des Kongresses. Foto: Hartwig Klappert

Unter voremanzipatorischen Bedingungen bewegt man sich hier wohl im Bereich demütigender Zwangsfeminisierung, die als Lust erlebt werden kann. Im Gespräch mit Tim Trzaskalik hat Georges-Arthur Goldschmidt von einem »erotischen Strafspaß« gesprochen und darauf verwiesen, dass das französische »fessé« für die Auspeitschung »eben doch ein wunderschönes Wort« sei, das »völlig erotisch besetzt ist«.

Goldschmidts höchst komplexes Buch »Der Ausweg« lässt solche Deutungen zu, doch was er zu erzählen sich vorgenommen hatte, war sehr viel mehr als eine neue Schilderung erlebten Lebens. Er hat das literarische Referenzsystem seines Schreibens abgesteckt, auf Sigmund Freuds Text »Ein Kind wird geschlagen« verwiesen, auf Handkes »Kaspar«, Rousseaus »Confessions« und immer wieder auf den Roman »Anton Reiser« von Karl Philipp Moritz. Auch »À rebours« von Joris-Karl Huysmans, wiederentdeckt von Michel Houellebecq, zählt zu diesem System, in dem der Masochismus als ein Akt der »Integration« begriffen wird: Erst wenn der Geschlagene Lust erfährt, gewinnt er sein Selbst zurück.

Ganz am Ende des ergreifenden Buchs scheint selbst dieser Ausweg ins Überleben als ein Schuldigwerden gegenüber einem von der SS hingerichteten Mitschüler Arthur Kellerlichts.

Der mit dem Breitbach-Preis und anderen hohen Ehrungen ausgezeichnete Erzähler des »Seelenmords« hat als luzider Essayist und Literaturwissenschaftler das Seelenleben der Sprache analysiert und über die Unübersetzbarkeiten des Französischen und des Deutschen meditiert. Er liebt die hellen, leuchtenden Tage, und »Der Ausweg« endet mit einer Erinnerung an seine Kinder und einer Huldigung an die geliebte Frau. Auf den Hügeln des quirligen Pariser Bezirks Belleville genießt er »das indigoblaue Rumoren der Weltstadt«.

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