Rede anlässlich der Gedenkfeier zu 80 Jahre Rosenstraße
am 6. März 2023 in der Marienkirche in Berlin
Lassen Sie uns sorgsam mit diesem Erbe umgehen
Von Eva Menasse
Wenn wir uns heute, achtzig Jahre nach den Protesten der Frauen in der Rosenstraße, an diese mutige Tat erinnern, dann dürfen wir nicht vergessen, dass sie dennoch nur ein winziges Licht ist, inmitten eines mörderischen Meers aus Dunkelheit. Vielleicht macht dieses Licht die Umgebung nur umso dunkler. Es gibt, auch wenn wir uns das noch so sehr wünschen, nichts Tröstliches in der Geschichte des Nazi-Gewaltherrschaft, nichts, was das Gesamtbild von menschlicher Grausamkeit, Infamie, Enthemmung und millionenfachem Mord im mindesten zu konterkarieren vermag. Dazu kommen noch das Mitläufertum, das schweigende Einverständnis und eine verstörende kollektive Stumpfheit gegenüber dem Schicksal der Mitbürgerinnen und Nachbarn.
Die Frauen in der Rosenstraße, die viele Tage lang vor dem Haus des Jüdischen Wohlfahrtsamts standen, um Nachricht von ihren dort inhaftierten Ehemännern, Vätern, Söhnen zu bekommen; der Fabrikant Oskar Schindler, der 1200 jüdische Zwangsarbeiter vor dem sicheren Tod in den Vernichtungslagern bewahrte; der amerikanische Diplomat Varian Fry, dem es in Marseille mit einem Netz aus Helfern gelang, weit über zweitausend Menschen zu retten, indem er sie ins neutrale Portugal oder per Schiff nach Martinique schmuggelte oder die unbekannte Bäuerin, die im Januar 1945 bei Palmnicken ihre Tür nicht vor einer Überlebenden des Massakers an der Ostsee verschloss, wie so viele andere – sie alle sind die Ausnahmen, die die Regel bestätigen, die das millionenfache moralische Versagen, das Stillhalten und Wegschauen der Mehrheit nur umso deutlicher markieren. Die Normalität war die Vernichtung, normal war eine Geschichte wie die von Anne Frank, dieses sprachbegabten jungen Mädchens, dessen Versteck verraten und das im KZ ermordet wurde, genau wie eine Million anderer jüdischer Kinder auch.
Dieses Geschehen, der Massenmord an Juden, Homosexuellen, Sinti und Roma, an körperlich und psychisch Erkrankten, an Kommunisten, Sozialisten, Zwangsarbeitern und Regimegegnern stellt uns Nachgeborene gerade in diesem Land, von dem das alles ausging, seither vor eine schwere Aufgabe, die kein Ende finden wird: es immer weiter zu erforschen, die Fakten richtig einzuordnen sowie angemessen daran zu erinnern. Aber auch Forschung und Erinnerung sind naturgemäß in Bewegung, denn Erinnerung ist ein Zustand der Gegenwart; sie wird vom jeweils spezifischen Blickwinkel definiert, von dem aus man zurückschaut.
Dennoch stehen wir heute, wie schon seit einigen Jahren, an einem besonderen Punkt der Zeitachse: Wir verlieren gerade die allerletzten Zeitzeugen. Jetzt wird es endgültig an uns liegen, das Gedenken zu bewahren, ebenso wie die Ruhe und die Geistesgegenwart. Denn nur das dient der Würde der Verfolgten und Ermordeten.
Das ist in letzter Zeit in den deutschen Debatten nicht immer gelungen; manch kleinen Differenzen wurde viel zu große Bedeutung zugemessen, normale Interpretationsunterschiede wurden zu scharfen Richtungsstreits aufgeblasen. Wir alle müssen uns aber sorgfältig darum bemühen, uns vom entsicherten Meinen, wie es in den digitalen Medien vorherrscht, niemals anstecken zu lassen. Wenn Zeithistoriker, Kuratoren, Politiker und Journalisten miteinander diskutieren, müssen sie einander weiterhin als Diskussionspartner betrachten, mit Betonung auf Partner, und nicht als Feinde, die mittels persönlicher Herabwürdigung der Debatte verwiesen werden. Auch zum Thema Rosenstraße gibt es Bewertungs- und Einordnungsunterschiede, die dennoch keine überragende Rolle spielen, wenn wir uns nur vergegenwärtigen, wieviel uns von der Zeit vor achtzig Jahren unterscheidet.
In den frühen Morgenstunden des 27. Februar 1943 begann die sogenannte »Fabrik-Aktion«. Zirka 10.000 noch in Deutschland lebende Juden, großteils solche, die als Zwangsarbeiter in den Rüstungsfabriken beschäftigt waren, sollten gleichzeitig verhaftet und in die Vernichtungslager deportiert werden. Es war die letzte große Deportationswelle aus dem sogenannten Altreich, eine logistische Herausforderung, die vorausgeplant werden musste. Der Krieg war im vierten Jahr, der – aus unserer wissenden Rückschau – militärische und psychologische Wendepunkt war bereits eingetreten; die Schlacht von Stalingrad war gerade katastrophal verloren worden, die 6. Armee vernichtet. Dem sogenannten tausendjährigen Reich blieben noch etwas mehr als 26 Monate; je aussichtsloser die Lage, desto wahnhafter und obsessiver wurden die Vernichtungsanstrengungen seiner Machthaber.
Es mag damit zusammenhängen, dass an einzelnen Stellen bereits ein wenig sabotiert wurde; jedenfalls sprach sich die geplante Fabrik-Aktion schon vorab herum, und eine eindrucksvolle Anzahl von zirka viertausend Menschen schaffte es, rechtzeitig unterzutauchen – damit begann für sie eine lange und in jedem Moment lebensgefährliche Odyssee, abhängig vom Wohlwollen anderer.
Das Elend der Verhafteten dieser Tage war unbeschreiblich. Viele wurden mitten im Winter nur in ihren Arbeitskitteln abgeholt und auf Lastwagen verladen; ihre Angehörigen erfuhren erst Stunden später, was geschehen war und brauchten teilweise Tage, um die Aufenthaltsorte ihrer Familienmitglieder zu ermitteln. In Berlin wurden die Menschen an fünf verschiedenen Stellen gesammelt, neben der Rosenstraße waren das die Synagoge in der Levetzowstraße und die Pferdeställe der Kaserne in der Rathenower Straße, beide in Moabit, eine Fahrzeughalle der Hermann-Göring-Kaserne in Reinickendorf, und der Saal des Vergnügungslokals »Clou« in der Mauerstraße in Mitte. Viele Kinder wurden ebenfalls einfach mitgenommen, da sie sonst allein zu Hause zurückgelassen worden wären. Alle, die nachweisen konnten, mit einem »arischen« Partner in bestehender »Mischehe« zu leben, wurden direkt in die Rosenstraße gebracht, manche von ihnen von dort gleich wieder entlassen.
Das alles ging über viele Tage; weder waren die Verhaftungen mit dem 27. Februar zu Ende, noch das allgemeine Chaos. Es wurden Betroffene aus anderen Sammelstellen in die Rosenstraße, andere von dort woandershin verlegt, zum Beispiel, wenn deren Partner gestorben waren oder nachweislich nicht mehr mit ihnen zusammenlebten. Nur in intakter Ehe mit sogenannten »Ariern« waren Juden noch geschützt; diese Menschen wurden während der Fabrik-Aktion von den anderen getrennt und ausschließlich in der Rosenstraße untergebracht. Für sie galten noch immer andere Regeln, mit etlichen von ihnen wurden später die letzten jüdischen Verwaltungposten besetzt, nachdem ihre Vorgänger deportiert worden waren.
»In den Lagern fehlte es an allem«, schreibt Wolf Gruner: »Die Mehrheit der Menschen hatte die Gestapo aus den Fabriken geholt, sie hatten also im Gegensatz zu früheren Deportationen keine Chance, auch nur minimale Vorkehrungen für eine Reise zu treffen, geschweige denn einen Koffer mitzunehmen.«
Wie in allen Sammelstellen waren auch in der Rosenstraße die Verhältnisse chaotisch und entwürdigend. Bis zu 2000 Menschen mussten sich gleichzeitig in den Räumen aufhalten, die früher verschiedene jüdische Wohlfahrtsorganisationen beherbergt hatten. Sie wurden buchstäblich zusammengepfercht, es befanden sich mehr Menschen in den Räumen, als sich auf den Boden setzen konnten; die sanitären Anlagen brachen zusammen, das Haus und der Hof versanken innerhalb von Tagen im Müll. Diese Details sind in der NS-Geschichte immer sehr aussagekräftig: Auch mit der brutalen und rücksichtlosen Art wurde den Verhafteten etwas mitgeteilt, damit wurde ihnen ihr Menschsein abgesprochen. Man hielt sie wie Tiere, und so sollten sie sich fühlen und benehmen. Genau das war gewollt.
Die in der Rosenstraße Inhaftierten hatten einen entscheidenden Vorteil gegenüber allen anderen, die im Rahmen der Fabrik-Aktion festgenommen worden waren: Sie hatten nicht- jüdische Familien, in den meisten Fällen Ehefrauen und Kinder, zum Teil auch Schwiegereltern, Schwager, und andere. Und diese hatten noch Rechte, als normale deutsche Bürger. Sie, die nicht-jüdischen Verwandten, kamen nun zur Rosenstraße, um sich zu erkundigen. Sie brachten Päckchen mit Kleidung, Lebensmitteln und Briefen und versuchten, die Ordner an der Tür dazu zu bringen, diese weiterzuleiten. In vielen Fällen gelang das offenbar. So entstand in den Tagen nach der Verhaftungswelle dieser erst spät bekannt gewordene, meist stumme Protest; die nicht-jüdischen Ehefrauen, und teilweise auch Kinder und andere Verwandte, blieben den Tag über in der kleinen Straße stehen und riefen gelegentlich sogar in Sprechchören: »Wir wollen unsere Männer wiederhaben!«
Das war nur möglich, weil sie »arische« Deutsche waren. Es war eine mutige Tat, ganz unabhängig von der Frage, ob ihre Männer überhaupt zur Deportation vorgesehen waren oder nicht. Ihre Frauen mussten vom Schlimmsten ausgehen, und sie hatten keine Ahnung, was ihnen selbst wegen ihrer Proteste geschehen mochte. Trotzdem blieben sie stehen, wurden von der Polizei auseinandergetrieben, sammelten sich immer wieder aufs Neue. Sie ließen sich nicht vertreiben, bis zur Freilassung ihrer Männer.
Das Thema Mischehen und deren Kinder, die sogenannten »Mischlinge« (ein schrecklicher Nazibegriff, der hier aus historischer Präzision dennoch benutzt werden muss), ist in der Forschung erst später bearbeitet worden; es betraf ja vergleichsweise wenige, und sie waren im Vergleich zu allen anderen Juden besser dran.
Erinnerung ist, wie schon vorhin gesagt, auch immer ein Zustand der Gegenwart. Mir scheint, dieses Neben- und Spezialthema der NS-Geschichte könnte gerade heute besonders lehrreich sein; es könnte uns nämlich einmal mehr zeigen, dass man manche Dinge nicht sauber getrennt bekommt. Es hat eine fast sarkastische Note, dass nicht einmal die zum Äußersten entschlossenen Nazis diese Frage lösen konnten; und zwar bis zum Ende ihrer Herrschaft nicht. Schon bei der Wannsee-Konferenz war umstritten, wie mit den jüdischen Partnern aus Mischehen zu verfahren sei. Die Hardliner schlugen vor, einfach alle Juden zu deportieren; die anderen – man könnte sie die geschickteren Öffentlichkeitsarbeiter nennen – befürchteten Proteste und Widerstand, wie sie später in der Rosenstraße ja auch wirklich sichtbar und bekannt wurden. Die Frage der Juden in gemischten Ehen wurde daher immer wieder zurückgestellt; 98 Prozent der Juden, die zu Kriegsende im Altreich überlebt hatten, waren solche in Mischehen. Ein solidarischer nicht-jüdischer Ehepartner war also die einzige Lebensversicherung, die bis zum Ende der Naziherrschaft gültig blieb, wenn auch nicht in allen Fällen.
Das Thema Mischehen betraf auch meine Familie. Dem Buch von Nathan Stoltzfus »Widerstand des Herzens«, das 1999 auf Deutsch erschien, bin ich auch deshalb sehr dankbar, weil es einen ersten breiten Fokus auf dieses komplizierte und nur scheinbar nebensächliche Thema legte. Denn aus der Sicht der Nazis genügte es eben nicht, wie im Jahr 1935 geschehen, Eheschließungen zwischen Juden und Nichtjuden zu verbieten; die Rassentheoretiker fanden schon zu viele solcher Ehen und der daraus hervorgegangenen Kinder vor. Und dafür mussten nun, aus der Logik des Rassenwahns, Regeln gefunden werden.
Die Forschung belegt geschlechtsspezifische Unterschiede: Deutlich mehr jüdische Männer waren mit nicht-jüdischen Frauen verheiratet als umgekehrt, das Verhältnis scheint etwa 60:40 gewesen zu sein. Als die Nazis später erheblichen Druck auf die jeweiligen nicht- jüdischen Ehepartner ausübten, wählten wiederum deutlich mehr Männer, also nicht- jüdische Männer, diesen unkomplizierten, von Regime und Gesellschaft höchst begrüßten Weg, ihre Frauen loszuwerden. Ein Mitarbeiter von Adolf Eichmanns Wiener »Zentralstelle für jüdische Auswanderung« sagte nach Kriegsende 1945 aus: »Ich habe Fälle erlebt, da sind die arischen Männer gekommen und haben gesagt ›Holt’s mei jüdische Frau‹«. Ein solcher Fall aus Deutschland wurde vor zwanzig Jahren in dem Buch »Mein verwundetes Herz. Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944« dokumentiert; Ernst Jahn, ein Arzt, ließ sich trotz fünf gemeinsamer Kinder von seiner Frau scheiden und brachte damit sogar die Kinder, die jüngste Tochter war erst zwei, vorübergehend in Lebensgefahr; seine Ex-Frau Lilli Jahn wurde in Auschwitz-Birkenau ermordet. Erst Jahrzehnte später tauchte ein erschütterndes Konvolut von Briefen aus den letzten Monaten von Lillis Leben, die Korrespondenz zwischen ihr und ihren Kindern, auf.
Die Gesetzgebung der Nazis jedenfalls machte für Mischehen Unterschiede: Wurden die gemeinsamen Kinder christlich erzogen, galt die Ehe als »privilegiert«, das aber hing wieder entscheidend vom Mann ab – üblicherweise bestimmte in der damaligen Zeit die Religion des Mannes, des sogenannten »Haushaltsvorstandes«, die der ganzen Familie.
Hierfür kann exemplarisch die Geschichte meiner Großeltern dienen. Richard Menasse, ein jüdischer Wiener Geschäftsmann, heiratete im Jahr 1917 eine rotblonde Katholikin aus dem Sudetenland mit Schreibmaschinen- und Stenographiekenntnissen. Meine Großmutter trat zwar aus der Kirche aus, aber es war für sie damals nicht nötig, formell zum Judentum zu konvertieren. In Zeiten von gesellschaftlicher Liberalisierung und sich auflösender religiöser Bindungen waren die jüdischen Gemeinden froh um jedes Kind, das bei ihnen als jüdisch eingetragen wurde. Alle drei Kinder meiner Großeltern (Tochter und Sohn geboren 1919, 1923 und mein Vater, ein Nachzügler, 1930) wurden also nach ihrer Geburt bei der Wiener jüdischen Kultusgemeinde registriert und waren damit Juden.
Auch für die Nazis waren sie Juden: Nach 1938, dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland, war diese Konstellation die schlechtest mögliche. Die Ehe meiner Großeltern wurde nun zu einer »nicht-privilegierten Mischehe«, die Kinder zu sogenannten »Geltungsjuden«, die den »Volljuden« gleichgestellt waren. Meine Großmutter Dolly, die wie so viele nicht-jüdische Frauen die Scheidung verweigerte, ging mit ihrem Mann den ganzen bitteren Weg. Sie wurden von allen drei Kindern getrennt. Die gerade erwachsene Tochter flüchtete nach Kanada, die beiden jüngeren Kinder fanden einen Platz auf einem Kindertransport nach England, mein Vater war damals erst acht. Meine Großmutter würde viele Jahre nicht wissen, was aus ihren Kindern geworden war, sie erfuhr erst zu Kriegsende, dass die erstgeborene Tochter schon 1940 der Tuberkulose erlegen war. Sie selbst musste mit ihrem Mann von einer jüdischen Sammelwohnung in die nächste ziehen, alle waren von außen mit einem »Judenstern« markiert, mein Großvater war »Sternträger« und Zwangsarbeiter. Mit Ausnahme der Lebensgefahr bekam sie also alles ab, die Stigmatisierung, den Verlust ihrer Kinder, die Vernichtung ihrer bürgerlichen Existenz. Wäre meine Großmutter während der harten Kriegsjahre durch Unfall oder Krankheit gestorben, hätte es das sofortige Todesurteil für meinen Großvater bedeutet.
Ich sage das nicht, weil es sich um meine Familie handelt, sondern weil es verdeutlicht, was die nicht-jüdischen Partner in den nicht-privilegierten Mischehen auf sich nahmen, also auch die meisten der Frauen, die Ende Februar/Anfang März 1943 in der Berliner Rosenstraße standen und protestierten. Ich sage das aber auch, weil später, mit einer teilweise ungeheuren Ignoranz seitens der Nachgeborenen, solchen Familien ihre Leidensgeschichte abgesprochen wurde. Mein Vater war schon über siebzig, als er sich zu fragen begann, ob er denn wirklich hätte allein in der Fremde aufwachsen müssen; irgendwelche Halbgebildeten hatten in ihm Zweifel gesät. »Deine Mutter war doch gar keine Jüdin – wieso bist du eigentlich geflüchtet?« Wir gingen damals gemeinsam in das Matrikelamt der Wiener Kultusgemeinde und ließen uns sein Judentum bestätigen, seinen Eintrag und den seiner Geschwister zeigen, und man erzählte uns, dass es diese Konstellation tausendfach gegeben hatte – jüdische Kinder von nicht-jüdischen Müttern, die sowohl vor wie unter den Nazis Juden waren, aber später keine mehr sein sollten.
Ich sage das, weil es heute eine ungute Tendenz gibt, quasi rückwirkend Arierpässe auszustellen oder sich eine jüdische Identität zuzulegen, je nachdem, welche Positionen der anderen in bestimmten politischen Fragen nicht oder besonders gefallen. Und ich sage das vor allem, weil doch gerade der absurde Tanz um die Mischehen, gerade die Willkür der nationalsozialistischen Verbrechen zeigen, dass sich Menschen niemals sauber nach irgendwelchen Kriterien einteilen lassen und dass wir im Gegenteil eine solche Weltsicht vehement zurückweisen müssen.
Wie für andere Religionen gilt auch für das institutionelle Judentum, dass es Zugangsregeln für die Mitgliedschaft formulieren kann; etwa, dass es Kinder von nicht-jüdischen Müttern nicht als Juden anerkennt – dass diese Bestimmungen nach der Shoah wieder strikter ausgelegt wurden als davor, ist allzu verständlich.
Mit der Verfolgung und Ermordung von Menschen während der Naziherrschaft aber haben die halachischen Abstammungsregeln nicht das Geringste zu tun. In ihrem Wahn vom reinen arischen Blut haben die Nazis sich selbst an die Stelle von Gott oder dem Schicksal gesetzt, indem sie völlig willkürliche Kriterien aufstellten, die die von ihnen beherrschten Menschen in Rechteinhaber und Entrechtete, später in zum Tode Verurteilte sortierte. Und sie haben Verfolgung und Mord in die Tat umgesetzt – millionenfach. Die einzige Einteilung, die man vornehmen könnte, wenn man über die damalige Zeit spricht und forscht, ist diejenige in Opfer und Täter. Und nicht einmal das ist, wenn man ganz nah an bestimmte Einzelfälle heranzoomt, immer trennscharf zu kriegen. Auch eminente Täter haben ab und zu jemanden gerettet oder verschont. Auch manche Verfolgte haben sich, in ihrer Not, schuldig gemacht – für sie gilt aber immer, dass sie ohne Gewaltherrschaft nie in die schuldhaften Situationen geraten wären.
Das zu sagen, heißt keineswegs, irgendetwas gleichzusetzen. Es heißt aber, darauf zu beharren, dass jedes geschichtliche Detail seine eigene Aufmerksamkeit und Sorgfalt verdient. Und seinen eigenen Bezugsrahmen. Sowohl das große wie das kleine Bild möglichst genau und haltbar zu zeichnen – das ist die herausfordernde Aufgabe einer professionellen Geschichtsschreibung. Sie wird ihr, auch wegen der Tendenz zu Schnellurteil und Übertreibung in den digitalen Medien, gerade nicht leicht gemacht.
Und deswegen sollten wir unsere Aufmerksamkeit heute, 80 Jahre nach den Protesten der Frauen in der Rosenstraße, auch auf die kleinen, aber so hässlichen Details, das Chaos und die Unübersichtlichkeit, den Müll, den Gestank und die verstopften Toiletten richten. Darauf, wie die dort Inhaftierten das teilweise zwei Wochen lang aushalten mussten, mit wenig Schlaf und ohne Winterkleidung, schlecht ernährt und ungewaschen. Wie psychisch zerrüttet viele von ihnen wieder herauskamen – und wie wenig das dennoch zählte, wenn man am Ende überlebt hatte. Wie groß – hier komme ich zum Anfang zurück – diese Ausnahmen waren, in Summe höchst unwahrscheinlich. Oder wie es Martin Doerry, der Enkel der ermordeten Ärztin Lilli Jahn, schreibt: Unsere Erinnerung darf auf keinen Fall zu einer verzerrten Bilanz werden, indem wir nur die Geschichten der Überlebenden erzählen. Denn dann entstünde »das Bild einer Schreckensherrschaft, der die meisten am Ende doch entronnen sind« (Doerry). Und so war es eben nicht.
Im Vergleich zu damals leben wir heute, trotz aller Probleme und Krisen, im Paradies. Wer, in diesem reichen und zum Glück immer noch demokratisch so stabilen Deutschland, ständig die drohende Wiederkehr der Nazis an die Wand malt, um seine Argumente zu untermauern, ist meines Erachtens kein seriöser Gesprächspartner. Oder mit einem glasklaren Satz von Michel Friedman: »Wenn du mit deinem Argument recht hast, brauchst du nicht Auschwitz dafür. Wenn du nicht recht hast, nützt dir Auschwitz auch nichts, aber du hast es missbraucht.«
Und gerade weil wir an der Schwelle stehen, die Erinnerung an die Nazi-Verbrechen ohne die letzten Zeitzeugen bewahren und in die Zukunft tragen zu müssen, glaube ich außerdem, dass es fast achtzig Jahre nach Kriegsende an der Zeit wäre, die seltsamen Genealogien zu verlassen, mit der heutige Debattenteilnehmer in die Nachfahren von Täter- und Opferfamilien sortiert werden oder sich selbst einsortieren. Um produktiv zu diskutieren, braucht es das nicht zur Beglaubigung einer Position. Die Ermordung meiner Urgroßmutter Berta Menasse in Theresienstadt stützt irgendeine meiner heutigen Meinungen genausowenig, wie es sie entwertet, dass ihre Schwiegertochter, meine tapfere Großmutter Dolly, keine Jüdin war. Über diese lange Zeit sind andere Kriterien wichtiger geworden, historische Expertise, moralische Standfestigkeit, Sorgfalt, Gelassenheit und die Fähigkeit, auch andere begründete Meinungen ohne Empörung gelten zu lassen. Hannah Arendt hat einmal gesagt: »Dass die Nazis unsere Feinde sind – mein Gott, wir brauchten doch nicht Hitlers Machtergreifung, um das zu wissen! (…) Das persönliche Problem war doch nicht, was unsere Feinde taten, sondern, was unsere Freunde taten«. Dieses Zitat an die Gegenwart anpassend, würde ich mir wünschen, dass sich alle, die sich heute ernsthaft für die Erinnerung und gegen Antisemitismus und Rassismus einsetzen, wieder viel stärker darauf besinnen, wer ihre natürlichen Verbündeten sind, und wer die wahren Feinde.
Am vergangenen 27. Januar, bei einer Gedenkrede im Thüringer Landtag, hat die Historikerin und Leiterin des Zentrums für Antisemitismusforschung, Stefanie Schüler-Springorum, einen kleinen, aber wuchtigen Merksatz formuliert: »Erinnerungskultur ist Demokratieerziehung.« So ist es. Das Element der Demokratieerziehung ist, was die Erinnerung an die Verbrechen der Nazizeit für alle in Deutschland, auch für die erst seit kurzem und von weither Zugewanderten, relevant und bedeutungsvoll machen sollte und muss. Sonst hätte man die Erinnerung ja wirklich den Familien der Opfer überlassen können. Und dann würden wir heute auch nicht hier stehen, um an hunderte, vielleicht weit über tausend Frauen zu erinnern, die sich aus Protest gegen die Verhaftung ihrer Männer vor achtzig Jahren nicht aus dem Zentrum der Hauptstadt vertrieben ließen. Das war ein starker Appell, auch an Mut und Zivilcourage in einer damals weit entfernten Zukunft, die inzwischen unsere Gegenwart ist. Lassen Sie uns sorgsam mit diesem Erbe umgehen.