Rede von Ursula Krechel: Noch immer für die Freiheit des Wortes

Rede von Ursula Krechel auf dem Kongress »Mit dem Kopf durch die Wände«, 16. Dezember 2023

Noch immer für die Freiheit des Wortes

Ursula Krechel

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Gäste, liebe Menschen, die ihr gekommen seid, um eine griffige Schlagzeile über einen Schlagabtausch, ein Köpfe-Einschlagen zu erhaschen –

Ich hatte einen Traum: Darin sprechen wir von Freiheit und alle meinen die gleiche Freiheit. Ich wachte auf, und die Freiheit stand schon im Wort.

Alles nimmt ab: den Parteien laufen die Mitglieder weg, die Kirchen stehen starr vor Schreck vor den gigantischen Austrittszahlen, Sportvereine klagen, dass sich Menschen nicht mehr an einen Verein binden wollen, ebenso die Freiwilligen Feuerwehren, dass nur noch wenige ehrenamtliche Funktionen ausüben wollen – an der Feuerspritze oder im brennenden Haus. Sollen andere sich doch die Finger und die Schnauze verbrennen.

Und da stehen wir: Lauter ehrenamtliche Menschen mit einem Beruf, vor dem uns unsere Eltern gewarnt haben. SchriftstellerInnen, die sich freiwillig zusammengeschlossen haben, Arbeitsgruppen gründen, die versuchen, Bedrängten Schutz zu bieten. Zweigstellen in aller Welt, quotenstark, divers, Superperformer. Der Haushalt ist ausgeglichen, Zuwächse an Mitgliedern enorm, innerhalb eines Jahres 11,4 Prozent, Kredite: null Komma null. Auch uns sind Mitglieder abhandengekommen, eine einstellige Zahl, doch sehr viel mehr, 68, sind gestern hinzugewählt worden.

Als 1921 Schriftsteller und Schriftstellerinnen unter dem Schock des 1. Weltkriegs, der damals noch nicht so hieß, einen Internationalen Club gründeten, war dies eine Sensation. Er hatte sich der Pressefreiheit verschrieben und versprach, sich für die Bekämpfung von Rassen-, Klassen und Völkerhass einzusetzen. Die Speisekarte des Eröffnungsdinners ist erhalten. Aber es ist verblüffend, dass entgegen den kulinarischen Regeln in zwei Gängen Kartoffeln gereicht werden: Pommes Savoyarde, also Kartoffelgratin, im vierten Gang und im fünften zum schottischen Moorschneehuhn Pommes Chips. Ist das schon ein Wink ins Kartoffelland, in der Hoffnung auf eine Verständigung mit dem geächteten Deutschland, dessen Literatur doch glänzend war?

1924 wird der PEN-Club Deutschland gegründet. Arnold Zweig, Alfred Döblin, Ernst Toller, Richarda Huch, Thomas und Heinrich Mann gehören dazu. Und da stehen sie schon für den Fotografen bereit auf der Freitreppe vor dem Schloss Sanssouci im Jahr 1926: Schätzungsweise fünfzig Delegierte des Internationalen PEN-Kongresses, den zum ersten Mal die Deutschen ausrichten. Unsicheres Wetter, vorne links ein Herr mit einem zusammengeknautschten Trenchcoat und ganz rechts ein kleines Mädchen mit Regenhut und einem karierten Mäntelchen und Spangenschuhen, eindeutig ein geschmackvolles Schriftstellerkind.

Arme Hunde, Außenseiter mit unsicheren Zukünften

Alexandru Bulucz stellt die in China verschleppte uigurische Ethnologin Rahile Davut vor. Foto: Ali Ghandtschi

Das weitere dürfte bekannt sein: Die Emigration der wichtigsten AutorInnen, die Gründung des PEN. im Exil. Ernst Toller hatte auf dem PEN-Kongress im Mai 1933 in Ragusa eine flammende Rede gegen den Antisemitismus und die Bücherverbrennung gehalten. Da waren die meisten der bedeutenden PEN-Mitglieder schon aus Deutschland geflohen. Ernst Toller, Lion Feuchtwanger und andere gründeten den PEN im Exil, dessen Präsident Heinrich Mann wurde. Ihnen gelangen Hilfsaktionen für bedrohte Autoren, während sie selbst bedrängt und verzweifelt waren. Glauben Sie, dass sie in der Weltöffentlichkeit beliebt waren? Sie waren arme Hunde, Außenseiter mit unsicheren Zukünften – wie viele der Verfolgten, die wir heute unterstützen.

Beim zaghaften Wiederanfang des deutschen PEN nach dem Krieg spielten Erich Kästner, Arthur Koestler auf der einen Seite und Johannes R. Becher auf der anderen diametral verschiedenen Rollen. Und dann schlug der Kalte Krieg zu, spaltete, trennte die Systeme, allerdings erkannte der Internationale PEN beide Zentren an. Es gibt also nicht nur seit eineinhalb Jahren zwei deutsche PEN-Zentren, es gab und gibt drei. Der Exil-PEN bestand weiter.

Gabriele Tergit, die von 1957 bis 1981 als Sekretärin des nun sogenannten PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland arbeitete, war als Schriftstellerin vergessen und trug es mit Fassung. Aus dem Exil war ein neutrales Ausland geworden. Erstmals stand im Jahr 1980 bei der Jahrestagung in Bremen die Literatur des Exils im Vordergrund. Da war noch nicht abzusehen, wie viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen einmal Deutschland als Exilland wählen würden.

Es hat unfassbar lang gedauert, bis sich PEN Ost und PEN West zusammengefügt haben. Ich habe dramatische, rechthaberische Tagungen in Erinnerung. Den Mitgliedern aus dem Ost-PEN wurde viel Misstrauen entgegengebracht, Staatsnähe, Schuld und Verstrickung wurden gesucht und aufgerechnet. 50 Autoren traten aus, die meisten aus dem Westen. Besonders die Dissidenten, die ausgebürgert worden waren oder die DDR oder andere kommunistische Länder unter dramatischen Umständen verlassen hatten, wollten verständlicherweise nicht mit denjenigen Autoren zusammen in einer Institution sein, die mit der Freiheit an Leib und Leben auch die Freiheit des Wortes eingebüßt hatten.

Das sind die Traditionen, in denen PEN Berlin steht, nicht in denen einer Radaubude.

Was bedeutet das, wenn die Welt auseinanderdriftet, sich neue Blöcke bilden, wenn PEN Berlin die einzige Institution im deutschsprachigen Raum ist, in der Schreibende in vielen Sprachen zusammenwirken, in der jüdische und muslimische Mitglieder sind? Zuhören, auch miteinander streiten und bitte die Charta lesen, ebenso wie die entsprechenden Artikel des Grundgesetzes.

Keine Freiheit für die, die die Freiheit des Denkens und Schreibens

Gespräch über Belarus v.l.n.r.: Jörg Sundermeier, Sasha Filipenko und als Übersetzer Wolf Iro. Foto: Ali Ghandtschi

Ganz unerträglich finde ich es, dass in den Fragen der Solidarität mit Israel die gegenwärtigen Deutschen, die ich – ohne Ansehen der Person – grosso modo Täterkinder oder -enkel nennen muss, als Zuchtmeister jüdischer Menschen auftreten. Jüdische Forscherinnen und Schriftsteller werden pathologisiert, psychologisiert, als würden diese den Antisemitismus befeuern, wenn sie die gegenwärtige Politik der israelischen Regierung kritisieren. Ganz unerträglich finde ich es, dass man Antisemitismusforscher schlussendlich selbst des Antisemitismus zeiht. Vergessen wird dabei die lange Geschichte der Schändung jüdischer Gräber, die Zerstörung von Synagogen nach 1945, um auf den Grundstücken Parkplätze, Kaufhäuser zu bauen.

Keine Freiheit für die, die die Freiheit des Denkens und Schreibens verhindern. Und das sind nicht nur Staaten, Konzerne. Manchmal sind wir es selbst, aus Feigheit oder Müdigkeit, Vorteilsnahme, aus Selbstzensur. In den angelsächsischen Ländern herrscht ein anderer, sehr viel weiterer Freiheitsbegriff für politische und literarische Äußerungen, und es wirkt dort, als wären wir geschichtsnotorisch behindert. Für uns ist es unerträglich, das Leid, das wir Juden und Jüdinnen angetan haben, zu relativieren. In Australien sieht das – verständlicherweise nach der Entrechtung der Aborigines – ein wenig anders aus.   

Ich habe einen Traum: Da sind lauter kleine Fischerboote, lauter verzweifelte Menschen, viele Frauen und Kinder, die sie besteigen im Süden Palästinas. Es sind zweifellos Kriegsflüchtlinge.

Ich habe einen Traum: Brot fällt vom Himmel, das einmal Manna genannt wurde, das den Israeliten bei ihrer 40-jährigen Wanderung durch die Wüste als Nahrung gedient hat. Wasser fällt vom Himmel, das Trinkwasserqualität hat. Oder hat Moses es aus dem Felsen geschlagen und Jahrtausende später großmütig Muslimen zu trinken gegeben?

Martin Luther King hatte einen Traum und sprach von ihm psalmodierend, ohne Polemik auf den Stufen des Lincoln Memorials vor 250.000 Menschen: den Traum von einem gerechten Land, ohne Rassismus. Sein Traum und der öffentliche Träumer wurden ermordet.

* Ursula Krechel, geboren 1947, Schriftstellerin, Vizepräsidentin der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und ehemalige Ehrenpräsidentin des PEN Deutschland (Darmstadt), letzte Buchveröffentlichung: »Gehen. Träumen. Sehen. Unter Bäumen. Essays« (Jung und Jung)

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