Wer über Israelhass nicht reden will, sollte vom Antisemitismus schweigen

Rede auf der Gedenkveranstaltung zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht
Joseph-Carlebach-Platz, Hamburg, 9. November 2023

Wer über Israelhass nicht reden will, sollte vom Antisemitismus schweigen

Von Deniz Yücel

Deniz Yücel bei seiner Rede in Hamburg

Als Daniel Sheffer [der Vorsitzende des Stiftungsrats Bornplatzsynagoge] mich vergangene Woche zu dieser Veranstaltung einlud, fühlte ich mich sehr geehrt, hatte allerdings eine Warnung und eine Nachfrage: Die Warnung lautete, dass feierliche Gedenkreden nicht meine Stärke seien. Das sei gar nicht gewollt, versicherte Daniel. Die Nachfrage lautete: »Bin ich der einzige Ausländer?«

Daniel wollte gleich gegen das Wort »Ausländer« protestieren, aber ich ließ ihn nicht ausreden. »Ich bin Türke, ich darf das«, sagte ich in Anlehnung an Oliver Polak. Und ich sagte sinngemäß: »Schon klar, vor 30 Jahren habe ich mit vielen anderen vehement dieses Wort zurückgewiesen und darauf gepocht, dass unsereins, also die Einwanderer und ihre Kinder und Kindeskinder, keine Ausländer, sondern Inländer sind. Das ist heute geklärt, deswegen sage ich manchmal Ausländer, weil es so schön einfach ist.«

Doch die verstörende Reaktionen auf den Massenmord der Hamas vom 7. Oktober sowie die Halb- und Nicht- und Ja-Aber-Reaktionen aus Teilen der Einwanderercommunitys haben vor Augen geführt, dass es hier noch Klärungsbedarf gibt. Darum sei an dieser Stelle mit allem Nachdruck gesagt: Wer mit allem Recht für sich reklamiert, dass er in diesem Land geboren und sozialisiert wurde, wer sagt: »Ich bin Hamburgerin, ich bin Berlinerin, Essener, Deutscher«, kann sich nicht der Verantwortung dieses Landes für seine Geschichte entziehen.

Natürlich kann diese Erinnerung in der Einwanderungsgesellschaft nicht durchgehend nach den eingeübten Mustern erfolgen wie zuvor; natürlich können Menschen ohne familiengeschichtliche Verstrickung in den millionenfachen Massenmord teils andere Perspektiven haben als die Nachkommen jener, die die Vernichtung der Juden in Europa geplant und durchgeführt, die sich am Holocaust bereichert, die Hitler gewählt oder zugelassen, die als Soldaten der Wehrmacht dafür gesorgt haben, dass hinter der Front die Vernichtung weiterging – wie jüdische Deutsche oder Nachkommen von nichtjüdischen Widerstandskämpfern – ich meine die wenigen echten, nicht die vielen eingebildeten – andere Perspektiven haben als die Nachkommen der Täter.

Doch das ändert nichts an dem Grundsatz, auf den sich weite Teile dieser Gesellschaft in einer jahrzehntelangen und teils erbittert geführten Auseinandersetzung verständigt haben und der heute unter anderem von einer 20-Prozent-Partei des organisierten Ressentiments bestritten wird. Dieser Grundsatz lautet: Es gibt kein Deutschland ohne Auschwitz – auch kein Multikulti-Deutschland, kein weltoffenes, liberales, klimaneutrales und erst recht kein selbstbewusstes Deutschland, kein anderes, neues, besseres Deutschland. Gar keins.

Allerdings darf die Empörung über die Ereignisse nicht dazu führen, andere Prinzipien zu vergessen, die diese Gesellschaft auszeichnen. Zum Beispiel das Prinzip, dass man den Rechtsstaat nicht dadurch verteidigt, dass man ihn abschafft. Das heißt auch: Es gibt keinen Bekenntniszwang. Mitsingen und mitbeten und mitmarschieren muss man nur in autoritären und erst recht in totalitären Regimen, aber nicht in einer offenen Gesellschaft. Zum Recht auf Meinungsfreiheit gehört auch das Recht, zu schweigen. Die Distanzierungs- und Bekenntnisaufrufe, die sich seit dem 11. September wiederholen, bewirken im Zweifel nur eines: dass sich die Leute angesichts dieses unerschütterlichen Misstrauens tatsächlich resigniert abwenden.

Doch was für Privatpersonen gilt, gilt nicht im selben Maße für Personen des öffentlichen Lebens oder für Institutionen – vor allem für solche, die für sich beanspruchen, Muslime zu vertreten, und die sehr schnell zur Stelle sind, wenn es gilt, islamfeindliche oder rassistische Vorfälle zu verurteilen. Nicht, weil ihnen jemand Distanzierungen abverlangt, sondern um ihrer selbst willen müssen sich die Muslime der Tatsache stellen, dass auch die dschihadistischen Massenmörder der Hamas sich als Muslime verstehen. Nicht, weil ihnen das jemand abverlangt, sondern aus eigenem Interesse sollten die palästinensischen und arabischen Einwanderer die Wortführerschaft nicht länger den Radikalen auf der Straße überlassen. Und als Ideal formuliert: Nicht, weil sie es als Ausländer müssen, sondern weil sie es als Inländer und Bindestrich-Deutsche wollen, werden sie jede Form des Antisemitismus verurteilen – auch den, der sich als vermeintliche Kritik an Israel tarnt.

Wer das nicht macht oder sich hinter Phrasen wie »Der Islam hat mit alledem nichts zu tun« versteckt, riskiert etwas ganz anderes als Sanktionen: Er riskiert seine Glaubwürdigkeit. Wer von einem Kalifat träumt oder davon, Israel zu vernichten, der findet inschallah von alleine die Tür.

Doch so einheitlich waren die Reaktionen aus der Einwanderungsgesellschaft auf den 7. Oktober zum Glück nicht. Auf dem kurzen Weg vom Eingang auf die Bühne wurde ich mehrfach mit Hamburg’a hoş geldiniz, »Willkommen in Hamburg« begrüßt. Und es war meines Erachtens auch kein Zufall, dass diejenigen deutschen Politiker, die nach dem 7. Oktober mit die deutlichsten Worte fanden, Özdemir, Nouripour oder Bayaz hießen.

Das ist auch ein Nachhall des Wirkens von Ignatz Bubis, zichrono livracha, selig seines Andenkens. Mit vielen anderen aus meiner Generation, für die Wellen rechtsextremer Gewalt in den Nachwendejahren prägend waren, habe ich es nicht vergessen, welche Rolle er damals spielte. In einer Zeit, in der die Einwanderer kaum in der Öffentlichkeit vertreten waren und weite Teile von Politik und Gesellschaft allerlei Verständnis für die pogromartigen Ereignisse von Hoyerswerda und Rostock zeigten, war es Ignatz Bubis, der die richtigen Worte fand. Für ihn war »Nie wieder« immer jetzt – auch im Wissen darum, dass der Schritt vom Rassismus zum Antisemitismus und vom Antisemitismus zum Rassismus nur ein kleiner ist, was zuletzt der Attentäter von Halle auf ebenso buchstäbliche wie blutige Weise demonstriert hat.

Doch dieses Wissen bleibt unvollständig, wenn es nicht berücksichtigt, welche Verwandlung dieses so bösartige wie wahnhafte Gerücht über die Juden, bekannt als Antisemitismus, nach Auschwitz durchlebt hat. So, wie die Juden einst den Antisemiten nicht als Minderheit galten, sondern, wie es Adorno und Horkheimer formulierten, als »Gegenrasse, das negative Prinzip als solches«, hat der Staat Israel die Rolle eines »Gegenstaates« eingenommen. Darum erfordert das Gedenken an die vor 80 Jahren ermordeten Juden eine Grundsolidarität mit dem jüdischen Staat der Gegenwart. Eine Grundsolidarität, die selbstverständlich das Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser nicht ausschließt. Aber wer über Israelhass nicht reden will, sollte auch vom Antisemitismus schweigen.

Darum, Herr Bürgermeister [Peter Tschentscher], gestatten Sie mir, mich mit einem direkten Wort an einen Ihrer Vorgänger zu wenden: Es verdient alle Anerkennung, dass Sie, Herr Bundeskanzler, nach dem 7. Oktober als erster ausländischer Politiker Israel besucht haben. Aber ich finde es unerträglich, dass die Bundesregierung nur eine Woche nach den heutigen Gedenkfeiern zum 9. November einem Staatspräsidenten [Recep Tayyip Erdoğan] den roten Teppich ausrollen wird, der sich zum globalen Wortführer des Hasses auf Israel und der Solidarität mit der Hamas gemacht hat und der auch und den inneren Frieden in diesem Land gefährdet. Darum mein Appell: Herr Bundeskanzler, empfangen Sie diesen Antisemiten nicht!

Und damit es nicht nur bei Symbolpolitik bleibt und da wir hier in Hamburg sind, möchte ich mit einem zweiten konkreten Punkt enden. Luisa Neubauer hat eben ausgeführt, was die Zivilgesellschaft tun kann. Aber es gibt Dinge, die die Zivilgesellschaft nicht tun kann: zum Beispiel diese als Moschee getarnte Vertretung des iranischen Regimes, das Islamische Zentrum, schließen. Frau Staatssekretärin [Juliane Seifert aus dem Bundesinnenministerium], Sie haben eben gesagt, dass es nicht bei Worten bleiben darf und Taten folgen müssen. Sehr richtig. Darum will ich die Bundesregierung einladen und auffordern: Machen Sie diese als Moschee getarnte Vertretung des Mullah-Regimes, ohne das die Hamas nicht dieser Terrorapparat hätte werden können, der sie heute ist, endlich dicht!

Nie wieder ist jetzt, nie wieder wird morgen sein.

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