Deniz Yücel: »Das Grundgesetz gilt auch in Klütz«

Interview mit Deniz Yücel über Meinungsfreiheit
Lübecker Nachrichten, 27. September 2025

»Das Grundgesetz gilt auch in Klütz«

Der Journalist Deniz Yücel ruft mit dem Autorenverein PEN Berlin zur Kundgebung in Klütz gegen die Ausladung von Michel Friedman auf. Warum der Rücktritt des Klützer Bürgermeisters für Yücel nichts ändert. Interview von Hanno Kabel

Deniz Yücel
Deniz Yücel mit Saalmikrofon. Publilkumsdiskussion im Rahmen des Gesprächsreihe »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen«. Dresden, 19.8.2024 | Foto: PEN Berlin

Die Ausladung des Publizisten Michel Friedman von einer Veranstaltung im Oktober 2026 in Klütz hat weite Kreise gezogen, seit die LN darüber am Sonntag, 21. September, als Erste berichteten. Inzwischen hat Klütz‘ Bürgermeister Jürgen Mevius (Unabhängige Wählergemeinschaft) seinen Rücktritt angekündigt. Michel Friedman wird am Montag, 29. September, trotzdem nach Klütz kommen – zu einer Kundgebung gegen seine Ausladung. Deniz Yücel (52) ist Sprecher der Autorenvereinigung PEN Berlin, der auch Michel Friedman angehört. PEN Berlin hat zu der Kundgebung aufgerufen. Sie steht unter dem Motto »Gewalt beginnt, wo das Reden aufhört« – ein Zitat der Philosophin Hannah Arendt. Ihren Namen trägt die Veranstaltungsreihe, zu der Michel Friedman eingeladen war, und auf Hannah Arendt hat Friedman sich oft bezogen. Yücel saß wegen seiner journalistischen Arbeit 2017 und 2018 ein Jahr in türkischer Untersuchungshaft.

Lübecker Nachrichten: Warum ist es so wichtig, dass Michel Friedman in Klütz auftreten kann?

Deniz Yücel: Weil Michel Friedman in Klütz ausgeladen wurde. Grundsätzlich hat niemand ein Anrecht darauf, in einem Literaturhaus aufzutreten, einen Literaturpreis zu bekommen oder einen Vortrag an einer Universität zu halten. Aber über diese Dinge entscheiden nicht Politiker. Auch da nicht, wo öffentliche Mittel fließen. Dafür gibt es Jurys und Gremien. Aber nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 gibt es immer wieder Fälle, in denen Künstler ausgeladen oder Preisverleihungen gecancelt wurden. Manchmal, um einer Empörung vorzubeugen, manchmal, weil es tatsächlich Empörung gibt.

Michel Friedman
Michel Friedman auf der PEN-Berlin-Lesung »Nie wieder ist jetzt« am 23.11.2019 in Frankfurt/Main | Foto: PEN Berlin during his opening speech

Was ändert sich für Sie dadurch, dass Klütz‘ Bürgermeister Jürgen Mevius jetzt seinen Rücktritt angekündigt hat?

Nichts. An der Ausladung von Michel Friedman hat sich ja auch nichts geändert. Außerdem geht es nicht allein um den Fall Klütz, sondern um Tendenzen in ganz Deutschland, die wir für bedenklich halten. Wir haben in unserem Aufruf zur Kundgebung in Klütz keine Rücktrittsforderung gestellt.

Haben wir in Deutschland ein Meinungsfreiheits-Problem?

Natürlich nicht so wie im Iran. Aber es gibt bei uns Probleme auf ganz verschiedenen Ebenen. Manche Institutionen sind offenbar unfähig, mit Kritik, Aufregung und Empörung umzugehen. Das hat sich seit dem 7. Oktober 2023 noch verstärkt. Hinzu kommt eine Exekutive, die zuweilen dazu neigt, Grundrechte so zu behandeln, als seien sie das Kleingedruckte auf einem Beipackzettel. Manche Gesetze wurden verschärft, die bestehenden werden enger ausgelegt, und manchmal geht es sogar gegen Aussagen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze. Immer in der besten Absicht. Aber auch die nobelste Absicht rechtfertigt nicht die Einschränkung von Grundrechten.

Sollte Meinungsfreiheit grenzenlos sein?

Nein. Aber wir fragen in Deutschland bei diesem Thema zu schnell nach Grenzen. Wir sollten zuerst über Freiheit reden. Auch die Freiheit, dummes Zeug zu behaupten. Auch Dinge, die andere als verletzend oder schockierend empfinden. Erst, wenn wir das anerkennen, können wir über Grenzen reden. Die sollte es geben – aber man sollte sie so weit wie möglich auslegen.

Sehen Sie in Deutschland Anzeichen für eine Spaltung der Gesellschaft, wie Sie sie in der Türkei erlebt haben?

Natürlich. Wobei die Spaltung der Gesellschaft nicht das eigentliche Problem ist. Jede moderne kapitalistische Gesellschaft ist gespalten: Stadt, Land, Klassen, Milieus und so weiter. Das Problem ist die Spaltung der Öffentlichkeit. Solange wir uns darüber einig sind, was die Fakten sind, können wir uns über die Ursachen streiten, über Analysen und Auswege. Meine frühere Zeitung, die taz, und meine jetzige, die Welt, haben unterschiedliche Ausrichtungen, sind aber Teil einer gemeinsamen Öffentlichkeit. Aber wir haben heute eine wachsende Zahl von Medien, die eine eigene Öffentlichkeit bilden.

Was soll die angekündigte Kundgebung in Klütz bringen?

Wir wollen nicht eskalieren und wie ein Ufo in Klütz landen. Selbstverständlich haben wir die Stadtvertretung eingeladen. Unsere Kundgebung ist ein Angebot, aus dieser Situation herauszufinden – nicht mit einem »Schwamm drüber«, aber durch den Dialog, auch im Streit. Und ich fahre lieber nach Klütz in dem Wissen, dass es dort Leute gibt, die diese Kundgebung begrüßen. Aber wir würden das auch machen, wenn dem nicht so wäre. Denn wir leben in keiner Ansammlung von Stammesgesellschaften. Das Grundgesetz gilt überall: in Klütz, in Kiel, in Kreuzberg. Und ich wünsche mir, dass am Montag aus Klütz die Botschaft ausgeht: Der nächste, der jemanden canceln möchte, sollte sich das zweimal überlegen und sich fragen, ob er sich dadurch nicht noch größeren Ärger einhandelt. Es ist immer besser, wenn Menschen aus Einsicht das Falsche unterlassen. Aber wenn sie es aus Muffensausen tun, ist es notfalls auch okay.

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