Impulsreferat Adrian Daub: Ein rechter Kampfbegriff: »woke«

Impulsreferat von Adrian Daub auf dem Kongress »Mit dem Kopf durch die Wände«, 16. Dezember 2023
Fotos: Ali Ghandtschi

»Woke«: ein rechter Kampfbegriff

Adrian Daub während seines Impulsreferats bei dem Streitgespräch »Wie geht woke, wo geht’s nach links?«

Auf dem PEN-Berlin-Kongress 2022 hatte Ayad Akhtar mit seiner Festrede in der allgemeinen Öffentlichkeit wie innerhalb des PEN Berlin für eine kontroverse Debatte gesorgt. Daran knüpfte auf dem diesjährigen Kongress das Streitgespräch »Wie geht woke, wo geht’s nach links?« zwischen Adrian Daub und Susan Neiman an. Dies ist die Manuskriptfassung von Daubs Impulsreferat; Neimans Impulsreferat finden Sie hier.

Guten Abend. Ich nehme an, ich bin als der Woke hier. Dabei betrachte ich mich vor allem als jemand, den Diskurse der »Anti-Wokeness« faszinieren. Denn das ist ja das erste, was bei Kritiken von Wokeness ins Auge sticht: Wer den Woken ihr Linkssein abspricht, ist heutzutage nicht allein. Gewiss: Es gibt Menschen, die sich selber als Woke bezeichnen. Besonders viele kenne ich nicht. Es gibt viel mehr Menschen, die andere so bezeichnen, und die sie damit zu diffamieren und zu diskreditieren suchen. Einige von ihnen sitzen heute hier im Saal.

Das zweite, was man feststellen muss: Wer sich heute über Wokeness als Verirrung der Linken beklagt, der stimmt in einen regelrechten Chor ein. Und gemeinhin nicht unbedingt einen linken. Gewiss, der Begriff mag bei Ron DeSantis, Elon Musk, Rishi Sunak oder Chris Rufo nicht exakt dasselbe bedeuten wie zum Beispiel bei Susan.

Aber wer sich seiner bedient, bedient sich eben eines, im Normalfall rechten, Kampfbegriffes. Einen vermittels dessen Zensur, Verbote, Demissionen und Ähnliches durchzusetzen. Dies gilt es, wie ich finde, zu reflektieren, selbst wenn man meint, dass der Begriff produktiver Teil linker Selbstreflexion sein könne.

Das soll auf keinen Fall bedeuten, dass es illegitim wäre, einen solchen Begriff zu verwenden. Es bedeutet aber schon, dass man mit dem Begriff mit einer gewissen Vorsicht hantieren muss. Wenn Begriffe Segel sind, wie Walter Benjamin einmal schrieb, dann geht es primär um die Kunst sie zu setzen. Aber wenn wir uns anschauen, wie dieser Begriff (»woke«) gesetzt wird, merken wir: vor allem unvorsichtig, plakativ, detailfern. Und diese Kombination macht mir Sorgen.

Im deutschsprachigen Mediendiskurs wird »woke« benutzt, um alles mögliche zu beschreiben – von linksgrün versifften Hafermilchlattetrinkern über Lastenfahrradfahrer, über linksradikale Hamas-Versteher bis hin zu dem unsäglichen Video während der Covid-Pandemie, in dem Gal Gadot und andere Celebrities John Lennons »Imagine« sangen. »Woke« erscheint in unseren Zeitungen gemeinhin in der Nachbarschaft anderer verwandter Begrifflichkeiten – je nachdem wie die Zeitung heißt, heißt »wokeness« auch »Identitätspolitik« oder »Gutmenschentum«; »woke« kann Postkolonialismus, Diversität (DEI im amerikanischen Diskurs) heißen, oder eben »linksgrün versifft«.

Elegant aus der Distanz, knirschend im Detail

Susan Neiman bei dem Streitgespräch »Wie geht woke, wo geht’s nach links?«

Susan Neimans Buch geht hier seinen eigenen Weg, was es sehr ehrt. Es operiert mit einem eigenen Verständnis des Wortes, will präziser sein als die NZZ oder die Welt. Das ist gut. Aber ehrlich gesagt bin ich mir deshalb fast noch unsicherer, wie das Feindbild der »Woken« dann überhaupt aussieht.

Bei vielen deutschsprachigen Texten kann man darauf schließen, dass irgendwie BLM, MeToo, Transpersonen und PoC gemeint sind. Aber in Links ist nicht woke tritt Frantz Fanon als anti-woke Stimme auf, Hillary Clinton hingegen als woke. Das Combahee River Collective, eine Gruppe von Aktivistinnen, die Urheberinnen des Begriff »identity politics« waren, soll nicht woke sein, die New York Times hingegen schon.

Es tut mir Leid, wenn ich mich jetzt ein bisschen zu stark in die Details stürze, aber es ist eben m.E. charakteristisch für die Kritik der Wokeness, dass sie aus der Distanz elegant funktioniert, dass aber genauer besehen die Details doch gehörig knirschen. Zum Beispiel: Wokeness reduziert laut Neimans Buch das Individuum auf ganz bestimmte Vektoren der Identität. Doch auch das Konzept der Intersektionalität, das genau diese Reduktion zum Problem erklärt und rückgängig machen will, scheint für Neiman woke zu sein. Jene Reduktion, die Kimberlé Crenshaw vermittels des Begriffs der Intersektionalität kritisieren wollte (und die Neiman kritisiert), geht auf die Bürgerrechtsgesetze der Johnson-Ära zurück – in denen in der Tat durch den Civil Rights Act Strukturen geschaffen wurden, in denen ein Mensch sich entscheiden musste als was (etwa als Frau oder Schwarze oder Person mit Behinderung) sie sich diskriminiert wähnte. Welche Identität ausschlaggebend, basal für das ihr Widerfahrene war.

Die Rigidität und Lebensfremdheit vieler Identitätskategorien, die Sie (zurecht) bemängeln geht in den USA auf diese Gesetze zurück – ist mit Wokeness also die Regierung von Lyndon Baines Johnson gemeint? Chris Rufo, der rechtsextreme Publizist, der als Aktivist angetreten ist, in Florida die Wokeness auszutreiben, beschreibt in seinem ebenfalls dieses Jahr erschienen Buch America’s Cultural Revolution »woke« genau so: »woke« sei der Marsch durch die Institutionen von Seiten der Bürgerrechtsbewegung. Aber das Zurückdrehen dieser Bewegung ist alles andere als linkes Projekt. Zumindest bei Rufo ist anti-woke nicht links.

Existenzen und Identitäten sichtbar machen

Jan Feddersen bei der Moderation des Streitgesprächs »Wie geht woke, wo geht’s nach links?«

Ich will nicht in irgendwelche Sophistereien geraten. Generell scheint der Begriff für Neiman drei Phänomene miteinander zu vermitteln: erstens Bewegungen für soziale Gerechtigkeit (»defund the police«); zweitens deren zynische Vereinnahmung von Seiten der Politik und Wirtschaft (»woke capitalism«); und drittens die akademische Postmoderne.

Dass in allen drei Feldern etwas im Argen liegt, gebe ich gerne zu. Gewiss: Aktivist:innen tendieren zu Selbstzerfleischung und zum Narzissmus der kleinen Differenzen. Nur: Sind diese neu? Wir sind hier in Kreuzberg, wie viele Splittergruppen trotzkistischer WGs aus den 1970er Jahren kennen Sie?

Gewiss: Die Art, auf die der neoliberale Staat und der Kapitalismus versuchen, die Sprache der sozialen Gerechtigkeit zu kapern versuchen, um uns einzureden, eine Transperson, die Bomben abwirft, oder eine #Girlboss-Feministin, die einen Sweatshop betreibt, seien ein Fortschritt, ist unglaublich nervtötend.

Aber: Die ersten, die sich über solche Praktiken erregt haben, sind doch »Woke« – die Queer Theory unternimmt seit fast 40 Jahren eine Kritik des Pinkwashing, des Homonormativismus, des Homonationalismus. Egal, wie sie alle heißen mögen: Es handelt sich bei diesen Neologismen immer um einen Versuch gegen diese Form der Vereinnahmung, Verflachung und Verdinglichung vorzugehen.

Und – speaking of theory. Gewiss: dass gewinnerhalb insbesondere poststrukturalistischer Theorie mitunter ein modischer Nihilismus existiert, zu dem Grade, dass man sich fragt, wieso sich die Betreffenden überhaupt als progressiv oder links wahrnehmen, das streite ich nicht ab. Aber: Ist das die Mehrheit? Oder sind nicht vielmehr die meisten Theoriebildungen natürlich darauf aus, die Welt besser und genauer zu beschreiben; und auch von der (vielleicht uneingestanden) Hoffnung getrieben, durch diese bessere und genauere Beschreibung eine bessere Politik und Praxis zu ermöglichen?

Intersektionalität gibt es, damit ein imperfektes Gerichtssystem für die größte mögliche Zahl der Bürger:innen doch noch so etwas Gerechtigkeit herstellen kann. Queer Theory gibt es, um Existenzen und Identitäten sichtbar zu machen, die traditionelle Begrifflichkeiten nur mit Schwierigkeiten repräsentieren können. Das mögen Sie gut finden oder beknackt, aber der Punkt ist doch – um mit einem anderen Berliner zu sprechen –, unsere Nihilisten sind fortschrittsgläubige Leute.

Diese Unschärfe ist weder konspirativ, noch ist sie rein zufällig. Sie scheint mir kognitiv zu sein. Sie ist eine verständliche, aber eben doch fragwürdige Reaktion auf das Zeitalter der sozialen Netzwerke. Denn gewiss, für jede noch so absurde Meinung wird sich heute jemand in den sozialen Netzwerken findet, der sie vertritt. Gewiss, wenn junge Leute auf Tumblr zum ersten Mal Feminismus, Sozialismus und Politik ausprobieren, dann kann Murks dabei herauskommen. Die Frage ist, wie wir solche Ausfälle bewerten: Sind sie repräsentativ oder doch eher Ausnahmen? Deuten sie auf breite kulturelle Umschwünge hin? Was hat der/die Autor:in mit ihnen bezweckt? Wir haben keine einfache, eindeutige Methode, dem zu begegnen, Spreu von Weizen zu scheiden, das gebe ich zu.

Aber es gibt doch heutzutage viele Zeitdiagnostiker, die eindeutig Verzerrung eher mit Verzerrung begegnen. Die statt zu fragen »ist der Unsinn, den diese Person gerade auf X eingestellt hat, jetzt zentral für das Projekt, das diese Person zu vertreten meint, oder ist es marginal?«, sich lieber sich wohlfeil erregen und für Gleichgesinnte diese Erregung publikumswirksam aufbereiten. Und dessen machen sich seltsamerweise eben viele schuldig, die wir vielleicht als »woke« bezeichnen; und eben auch viele, die sich über »Wokeness« aufregen.

Ich glaube auch viele Diskussionen der Verfehlungen von »Wokeness« haben einen starken »description creep«; stellen Behauptungen auf über angebliche Meinungen der Woken, die man nur mit sehr viel googeln und einer wirklich eigenwilligen Lektüre überhaupt finden kann.

Moralische Panik

Adrian Daub

Ich glaube: Wer von »woke« spricht, legt immer ein Narrativ zugrunde, in dem »die Linke« früher einmal reiner, besser (bei Neiman: universalistischer) war. Normalerweise, und das mag ein Zufall sein, um den Zeitpunkt, in dem der oder betreffende Autor:in so alt war, wie die Menschen, die er oder sie jetzt kritisiert. Und dieses Narrativ lässt sich meines Erachtens nicht halten. Es ist nicht schwer, anti-universalistische und fortschritts-kritische Töne in der klassischen Linken zu hören. Und es gehört meines Erachtens auch ein gerüttelt Maß Selektivität dazu, um zu meinen, Black Lives Matter glaube nicht an Fortschritt, oder Fridays for Future. Wie gesagt, das funktioniert im Abstrakten manchmal ganz okay. Aber sobald es auf die Empirie trifft, fällt einem als allererstes die Konstruiertheit des Ganzen auf.

Sie mögen sagen: Es geht um eine breite Diagnose der Gegenwart, da ist eine gewisse Unschärfe vorprogrammiert. Meine eigene Analyse des Diskurses über Wokeness geht davon aus, dass diese Unschärfe Symptom ist.

Der Soziologe Stanley Cohen hat in den 1970er Jahren das Phänomen der »moralischen Panik« beschrieben, eine verzerrende Verallgemeinerung von einer realen aber begrenzten Ereignisbasis heraus. In einer moralischen Panik wird anhand von ständig wiederholten Anekdoten, die auf den ersten Blick in relativ marginalen (oder auch schlicht fernen) Soziotopen vonstatten gehen, von Journalist:innen, Politiker:innen usw. auf einge große, gesamtgesellschaftliche, und normalerweise bedrohliche, Entwicklung geschlossen. Genau diese Art Panik scheint mir bei unserer Sicherheit vorzuliegen, dass »Woke« die Linke kontaminiert habe und sie, wie René Pfister schrieb, sie »woke und munter in den Untergang« führe.

Teil der moralischen Panik ist, was Cohen die »Inventarphase« nannte: Eine neue Begrifflichkeit kommt in der Öffentlichkeit an, erregt die Gemüter, elektrisiert die Publizistik und die Medien. In der »Inventarphase« wird nun erst einmal entschieden, was überhaupt unter das Phänomen fällt und was nicht – nur ist es für Cohen kennzeichnend für eine moralische Panik, dass tendenziell nicht eingegrenzt, sondern vielmehr permanent entgrenzt wird. Dass das neue Modewort an alles angehängt wird, was irgendwie mit ins Bild passt. Dass nach dem Prinzip »reim Dich oder ich fress Dich« alles, was nicht passt, passend gemacht wird.

Und genau darin besteht mein Verdacht, was den Diskurs über »Woke« angeht: Er ist eine moralische Panik, und der Grund, warum sich »woke« so schlecht definieren lässt, ist, dass er im Grunde genommen ein Unwohlsein und eine Entfremdungserfahrung kristallisiert. Das macht den Begriff interessant, aber als Begriff nicht besser. Es handelt sich mal ums mal um eine Beschreibung, die nichts beschreibt, eine als Diagnose getarnte Geste unwirschen Wegwischens.

Wirklich scharf ist nur die Ablehnung

Lucia Lucia beim Poetry Slam »To Bot or not to Bot?«

Es existiert kaum jemand, der die Positionen verteidigen würde, die die Kritik den »Woken« routinemäßig zuschreibt. Und dies, obwohl es sich um eine mittlerweile dominante Form linker (oder eben pseudo-linker) Politik handeln soll.

Viele der angeblichen Tatsachen über die »Woken« – dass sie »quasi-religiös« unterwegs sind, dass sie tribalistisch nur ihre eigene Unterdrückung zum Thema machen, dass ihre Ideen von Carl Schmitt oder Michel Foucault oder Judith Butler abstammen – sind Tatsachen, die die meisten solchermaßen geziehenen in keiner Weise über sich selber akzeptieren würden. Das mus nichts heißen, aber es ist eben auch der Grund, warum kaum jemand, der sich über Woke aufregt, Woke zu Woke befragt.

Kurzum: Der Verdacht drängt sich auf, dass es das Objekt der Erregung über Woke so gar nicht gibt, oder wenn, dann nur in der Erregung darüber. Wirklich scharf ist an den Charakteristiken nur die Kritik, die Ablehnung. Wie gesagt, es ist keineswegs illegitim, sich eines rechten Kampfbegriffes zu bedienen. Nur: Ob man damit die Linke rettet, steht auf einem anderen Blatt.

Und man muss auch klar sagen: dass man ganze Kreise linker Aktivist:innen als woke Wirrköpfe abtut, weil sie Aktivist:innen sagen, erschließt sich mir als Strategie nur bedingt. Es gibt – das zum Abschluss – vom amerikanischen Kritiker Lyonel Trilling das schöne Wort von den »irritable gestures seeking to resemble ideas« – »gereizten Gesten, die Ideen ähneln wollen«. Ich befürchte, dass anti-wokeness im schlimmsten Fall aus gereizten Gesten besteht, die einer Strategie ähneln wollen. Das, was Trilling so beschrieb war übrigens auch nicht die Linke. Es war der Konservatismus. Vielen Dank.

* Adrian Daub, geboren 1980, Literaturwissenschaftler an der Universität Stanford, letzte Buchveröffentlichung: »Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst« (Suhrkamp, 2022)

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