Jakob-Wassermann-Dankesrede von Eva Menasse

Dankesrede zur Verleihung des Jakob-Wassermann-Preises 2023
Fürth, 12. März 2023

Jakob Wassermann und die Vielfalt jüdischer Positionen

Von Eva Menasse

Meine sehr geehrten Damen und Herren! 

Eines der Geheimnisse der Bücher und des Lesen besteht vermutlich darin, dass einem die wichtigen Texte immer zur richtigen Zeit begegnen; anders wahrscheinlich als die paar großen Lieben im Leben, die auch zu früh oder zu spät kommen können. Ein Buch, einen Autor, die einem gerade nichts zu sagen haben, wird man übersehen; aber dann, wenn es soweit ist, stellen sie sich einem in den Weg. Viele der großen Romane Jakob Wassermanns, »Der Fall Maurizius«, »Etzel Andergast«, »Caspar Hauser«, habe ich jung, in meinen frühen Zwanzigern gelesen, damals, als einem das eigene Leben so rätselhaft erschien, dass man damit lieber noch gar nicht beginnen wollte und sich stattdessen in diese sprachtrunkenen Welten flüchtete.

Mehr als fünfundzwanzig Jahre vergingen; Wassermann spielte in meiner Lesebiographie keine Rolle mehr. Ich suchte und bewunderte eine andere Art von Literatur, kühler, knapper, moderner, gerade weil ich in jüngeren Jahren so ausgiebig in Wortschatz und Syntax derer gebadet hatte, die ich inzwischen die Bombastiker nennen würde, also neben Wassermann auch noch Perutz, Zweig, Werfel, und vor allem mein Hausgott Heimito von Doderer.

Vor einigen Jahren bot die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Bestände älterer Veröffentlichungen zu vergünstigten Preisen an; ein Freund, der dort Mitglied ist, fragte, ob er mir etwas mitbestellen sollte; ich wählte aus dem Verzeichnis ein einziges Buch aus, Jakob Wassermanns Reden und Schriften, die unter dem Titel »Deutscher und Jude« mit einem Vorwort von Hilde Spiel im Jahr 1984 erschienen waren. Als ich das Buch Wochen später bekam, wusste ich nicht mehr, was ich damit gewollt hatte und stellte es ins Regal zu den Romanen. Dort hat es weitere Jahre geduldig gewartet und mich dann breit angegrinst, als ich die Nachricht von diesem Preis bekam und schon selbst bis zum Hals in dieser Materie steckte.

Die Lektüre von Wassermanns Essays zu seinem Lebensthema ist, es gibt leider kein kleineres Wort dafür, erschütternd. Er kreist darin so verzweifelt wie hoffnungsvoll, so ungläubig wie sarkastisch um die Frage, ob er mehr Deutscher sei oder mehr Jude, was die Quintessenz von beidem wäre und warum es diese Quintessenz offensichtlich weder gibt noch geben darf. An wem das liegt. Und vor allem, warum ihn die Deutschen einfach nicht als Gleichen akzeptieren und in ihm immer nur den Fremden, den Anderen sehen wollen, da er selbst sich doch, und gerade als fränkischer Schriftsteller, als so ungemein deutsch empfand, aus deutschen Quellen und deutscher Sprache gespeist und gewachsen. Es stehen bittere, wütende Sätze darin, über giftigen Antisemitismus, der ihm von hochgebildeten Gesprächspartnern in feinsinnigsten intellektuellen Ableitungen entgegentröpfelte, aber ebenso beschreibt er den »in den Volkskörper gedrungenen dumpfen, starren, fast sprachlosen Haß«: »Dieser Haß hat Züge des Aberglaubens ebenso wie der freiwilligen Verblendung, der Dämonenfurcht wie der pfäffischen Verstocktheit, der Ranküne des Benachteiligten, Betrogenen ebenso wie der Unwissenheit, der Lüge und Gewissenlosigkeit wie der berechtigten Abwehr, affenhafter Bosheit wie des religiösen Fanatismus. Gier und Neugier sind in ihm, Blutdurst, Angst, verführt, verlockt zu werden, Lust am Geheimnis und Niedrigkeit der Selbsteinschätzung. Er ist in solcher Verquickung und Hintergründigkeit ein besonderes deutsches Phänomen. Er ist ein deutscher Haß.«

Man erschrickt. Ich bin erschrocken, als ich diese und andere Sätze las. Ich wollte dem Jakob Wassermann von damals, der am Neujahrstag 1934 in seiner langjährigen Wahlheimat Österreich an einem Schlaganfall starb und von alldem, was kurz danach folgte, nichts mehr miterleben musste, zurufen, dass es jetzt endlich nicht mehr so sei. Man denkt das, und hält sofort inne. Ja, auf Kosten von Millionen Toten. Aber stimmt es überhaupt? Ist es wirklich nicht mehr so, ist es vielleicht anders, und wenn ja, warum?

Ich wollte Jakob Wassermann außerdem sagen, dass ich seine Klagen über die fehlende Anerkennung von nicht-jüdischen Deutschen auch ein wenig unangenehm finde, anbiedernd, ein Betteln bei verbohrten Rassisten. Wassermann war ein berühmter Schriftsteller – wer waren denn die, die ihm das Deutschsein absprachen? Und sogleich schämte ich mich, denn die Zeiten waren ganz andere, und wozu die verbohrten Rassisten, demnächst Arier, schon bald in der Lage sein würden, weiß ich heute, aber Wassermann spürte es. Das ist viel schlimmer. Geschichtsbuchwissen gegen erlebte Abwertung und Bedrohung, lebenslang. Ich habe kein Recht, Jakob Wassermann von heute aus zu belehren, obwohl das eigene hochfahrende Selbstbewusstein schon auch von positiver Veränderung der Zustände erzählt.

Die Wirkung dieser Reden und Aufsätze, nicht nur des bekannten und etwas langatmig-verschlungenen mit dem Titel »Mein Weg als Deutscher und Jude«, ist jedenfalls enorm. Man befindet sich nach wenigen Seiten in einem erregten Gespräch mit sich selbst und dem Autor. Nicht zuletzt ist diese Essaysammlung eine Art Zeitkapsel, deren Wirkung sich bis heute hält. Hätte Wassermann länger gelebt (er war gerade erst sechzig, als er starb) – dieser Band wäre nie so veröffentlicht worden. Dieser noch unschuldige Kenntnisstand wäre überholt worden. So ist es die Aussage eines besonders wahrhaftigen Zeugen, der die Szenerie exakt beschrieben, das Verbrechen selbst aber versäumt hat.

Von heute aus recht unbehaglich wird es, wenn Wassermann nach Gemeinsamkeiten sucht, als müssten Deutsche und Juden einander, fast naturgesetzlich, wie die gleichpoligen Enden von Magneten abstoßen. Er redet von »Schicksals- und Charakterähnlichkeit«, von »jahrhundertelanger Zerstückelung und Mittelpunktslosigkeit. Fremdgewalt und messianischer Hoffnung auf Sieg über alle Feinde und auf Einigung.« Bei beiden will er »unvereinbare Gegensätze individueller Wesenszüge« erkennen: »praktische Regsamkeit und Träumerei; Spartrieb, Sammeltrieb, Handelstrieb, Bildungstrieb (…). Überfülle der Formeln und Mangel an Form. Ein seelisches Leben ohne Bindungen, das unversehen zur Hybris führt, zu Hoffahrt und unbelehrbarem Starrsinn. Hier wie dort schließlich das Dogma der Auserwähltheit.«

Ich glaube, dass dieser Gedanke von den zu großen Ähnlichkeiten falsch ist; aber auf eine faszinierende Weise nicht krass falsch, sondern nur knapp daneben. Denn im Verhältnis zwischen einer Mehrheit und sich emanzipierenden Minderheiten gibt es zwei oft übersehene Paradoxa. Erstens: Die Minderheiten werden mit der Verbesserung ihrer Lage unzufriedener. Denn sobald man ein bisschen von dem genossen hat, was einem vorher verwehrt war, will man mehr. Die Soziologen Nachtwey und Amlinger nennen das die »gegenläufigen Effekte normativen Fortschritts«. So geht es heute den Frauen und den Homosexuellen in der westlichen Welt, die, wenn man ihre Leidensgenossen von vor fünfzig Jahren fragen würde, im Paradies leben, nun aber auch kleinere Diskriminierungen thematisieren und mit Recht zurückweisen. In so einer Lage war, auch, Jakob Wassermann, der trotz allen Erfolgs hochempfindlich reagierte, wenn man ihm etwa ein »orientalisches Erzähltalent« bescheinigte. Seine Vorfahren, schrieb er, hatten »seit mindestens 500 Jahren im fränkischen Land gesessen«. Dass es ihnen und ihresgleichen nicht gelungen sei, »sich dem Körper der Nation tiefer zu vermischen«, betrachte er »nicht ausschließlich als der Juden Schuld«. Das ist so deutlich wie höflich gesagt.

Aber das zweite und schwerer wiegende Paradox betrifft die Mehrheit. Immer und überall fordert sie von ihren Minderheiten Anpassung, Integration, Assimilation. Sie glaubt sich sogar selbst, dass sie das wünscht. Sie möchte nicht dauernd an das Fremde erinnert werden, dauernd dem Fremdartigen im eigenen Land begegnen. Aber wehe, wenn diese Anpassung gelingt! Dann werden die Fremden, die sie, die Mehrheit, im Innersten eben doch niemals als gleichwertig betrachtet hatte, erst richtig bedrohlich. So hat man es dann doch nicht gemeint. Echte Angleichung fühlt sich für die, die bisher gewohnt waren, von oben nach unten zu blicken, nicht richtig an, keinesfalls wie das Einswerden in der Liebe, sondern wie die Bedrohung durch eine fünfte Kolonne: ‚Wenn sie erst einmal so sind wie wir – was sind wir dann eigentlich?‘

Per Leo wird sich bestimmt an den anregenden Abend vor Jahren in Berlin erinnern, an dem dieses Phänomen anhand der USA und Barack Obamas Präsidentschaft diskutiert wurde. Obama war doch, von Europa aus gesehen, der Traum aller Schwiegermütter, gebildet, elegant, besonnen im Umgang, geeignet zum Vorbild für alle. Und doch erzeugte gerade er im eigenen Land einen solch irrationalen Hass in seinen weißen Gegnern, der von hier aus schwer begreiflich schien. Ja, eben, denn er sah viel besser aus als George W. Bush, er war zweifellos weit intelligenter als Bush senior, intellektueller als Clinton und charismatischer als eine ganze Handvoll seiner weißen Vorgänger zusammen. Nichts demonstriert einer Mehrheit, die ohnehin Abstieg und Machtverlust fürchtet, die eigene Ersetzbarkeit so sehr wie ein offensichtlich überlegenes Exemplar der vormals verachteten Minderheit. Und nichts macht sie aggressiver. Das Ergebnis hiess Trump.

Der Berliner Abend damals fand seinen Höhepunkt, als jemand, vom Wein befeuert, die Ergebnisse der Diskussion pointiert zusammenfasste: »Obama ist also der Heine Amerikas!«

Aber damit wären wir, ganz ernsthaft, wieder zurück bei Jakob Wassermann und der Frage, die er nicht lösen konnte, wahrscheinlich nur deshalb, weil er viel zu dicht dran war: Warum erkennen mich die Deutschen in letzter Konsequenz nicht an? Warum bezeichnen sie mich, selbst wenn sie mich loben wollen, als einen Orientalen? Eben deshalb: Weil ein Jude damals kein besserer Deutscher sein durfte, auch kein gleich guter.

Zwischen damals und heute liegt der ziemlich erfolgreiche Versuch Nazi-Deutschlands, das europäische Judentum auszulöschen. Was Jakob Wassermann wie so viele andere spürte, aber wohl niemals für möglich gehalten hätte, ist tatsächlich eingetreten, millionenfacher Massenmord, von dem Hannah Arendt sagt: »Das hätte nie geschehen dürfen. Da ist irgendetwas passiert, womit wir alle nicht fertig werden.« Seit damals sind, um das Mindeste zu sagen, alle Fragen von Gegensatz und Gleichheit, von Juden und Deutschen noch viel komplizierter geworden; durch die Gründung Israels und den Konflikt mit den Palästinensern, der in diesen Wochen auf eine ebenso entsetzliche wie leider vorhersehbare Weise eskaliert, werden die diskursiven Interferenzen und moralischen Kurzschlüsse schwindelerregend. Umso mehr bleibt es eine so wichtige Verpflichtung gerade in diesem Land, einen Kurs der Vernunft zu halten, und unsachlichen Vermengungen von Geschichte und Gegenwart, Deutschland, den von Deutschen ermordeten Juden und heutiger israelischer Politik entgegenzutreten.

Zwischen damals und heute liegt auch das jahrzehntelange Bemühen, eine deutsche Erinnerungskultur zu begründen, mit der die Untaten der Vorfahren in die nationale Identität integriert werden, ein Versuch, der so noch nie zuvor von einem Staat unternommen wurde, wie die Philosophin Susan Neiman zugunsten Deutschlands argumentiert. Trotzdem ist die Zwischenbilanz heute, an jenem fragilen Punkt auf der Zeitachse, an dem wir die letzten Zeitzeugen verlieren, eher gemischt; der Publizist Max Czollek spricht in seinem neuen Buch vom »Versöhnungstheater«, das die Deutschen vor allem zur eigenen Beruhigung aufführten. Per Leo hat die Fehlentwicklungen der sogenannten Vergangenheitsbewältigung in seinem letzten Buch »Tränen ohne Trauer« viel substanzieller analysiert. Was fehlt, schreibt er, ist eine »doppelte Mühe, ohne die man eine solche Tat niemals los wird: die Aufklärung des Verbrechens, und das Eingeständnis, dass die Perspektive des Opfers dem Täter nicht zur freien Verfügung steht«. Und auch er, wie andere, spricht von der Tendenz, sich den Nationalsozialismus »durch Bannformeln und magische Namen dauerhaft vom Leib« zu halten.  

Sich mit Geschichte zu beschäftigen heißt anzuerkennen, dass sie zwar vorbei, aber niemals zu Ende erzählt ist. Als ich als ganz junge Studentin in einem der ersten Semester erfuhr, dass die genauen Umstände von Cäsars Tod nicht geklärt seien, löste das wie bei wahrscheinlich vielen jungen Menschen auf der Suche nach der Wahrheit erst einmal den Impuls zum sofortigen Hinschmeißen und Weglaufen aus (»was können sie mir hier beibringen, wenn sie selbst nichts wissen?«) Aber gleich im nächsten Moment verfing genau an dieser Stelle die Faszination für dieses Fach, die mir bis heute geblieben ist: Durch seriöse Arbeit und genaues Quellenstudium kann man, gerade, was die Nazi-Zeit betrifft,  der Wahrheit durchaus nahekommen.

Mit Per Leo und anderen Historikern weiß ich mich darin einig, dass das tatsächliche Faktenwissen darüber in einem eklatanten Missverhältnis zu der Konjunktur steht, mit denen diese Themen in der deutschen Arena verhandelt und oft genug zur Profilierung benutzt werden. Die historischen Fakten sind sehr viel härter und ungemütlicher als die pathetischen Phrasen, die so gern geschwungen werden. Doch laufen die Phrasen – und damit kommen wir zurück zu Wassermanns Lebensthema – besonders beim Antisemitismus und seiner Bekämpfung heiß und aus dem Ruder.

Sich ernsthaft mit Geschichte zu beschäftigen heißt auch anzuerkennen, dass sich ihre sogenannten Lehren nur sehr mittelbar auf Tagespolitik anwenden lassen. Kürzestmöglich gesagt: Nein, wir stehen trotz allem Irrationalismus und Hass, der besonders in den digitalen Medien so ungebremst um die Welt schwappt, wahrlich nicht vor der Wiederkehr nationalsozialistischer Verhältnisse. Wer das sagt, ist kein seriöser Gesprächspartner und weiß auch nichts von Geschichte. Und ja, es gibt immer noch Antisemitismus in Deutschland, es wird ihn weiterhin geben, denn er ist eine tief eingewurzelte Tradition im christlichen Abendland. Judenfeindliche Darstellungen gehören zur Ikonographie der Kirche, und es gibt weit mehr davon im ganzen Land als nur die Judensau von Wittenberg.

Es ist menschlich nachvollziehbar, dass die Kombination dieser beiden Dinge – die ungeheuren Verbrechen Deutschlands an den Juden und die Tatsache eines unserer Kultur inhärenten Antisemitismus – zu Scham und Verzweiflung führen und zu dem brennenden Wunsch, das unangenehme Thema durch maximale Lautstärke und Draufeinschlagen irgendwie doch unter Kontrolle zu bekommen. Leider funktioniert das nicht.

In letzter Zeit ist der Antisemitismusvorwurf in Deutschland inflationär geworden, und das schadet allen, mit Ausnahme der echten Antisemiten. Denen hilft die Inflation, denn sie werden nun in einer Menge unsichtbar, in der alles, was irgendjemandem nicht passt, auch bloß Geschmackloses, Missglücktes, Uninformiertes, Ungeschicktes, schlechte oder dumme Kunst, gleich Antisemitismus oder Verharmlosung von Antisemitismus genannt wird. Viele gutwillige, ganz normale Menschen sind verwirrt und wenden sich von diesen Themen ab, akzeptieren Tabus und pflegen heimlich ihre Ressentiments. Aber vor allem läuft die Gesellschaft Gefahr, durch die hitzigen Schlachten auf dem symbolischen Feld von Wissenschaft, Kunst und Kultur die wichtigsten Aufgaben aus dem Blick zu verlieren. Jedermann kann jedes Jahr aufs Neue im Verfassungsschutzbericht nachlesen, wo die Gefahr für Leib und Leben der Juden in Deutschland zu 90 Prozent herkommt, warum Synagogen, jüdische Einrichtungen wie Schulen und Buchhandlungen von der Polizei geschützt werden müssen: Sie kommt von gewaltbereiten deutschen Neonazis, Stichwort Halle, Stichwort Mord an Walter Lübcke, deren Verbindungen in manche Strukturen von Polizei und Bundeswehr so eindeutig wie unaufgeklärt sind. Das kann einem Angst machen, und mir macht es weit mehr Angst als ein zwanzig Jahre altes indonesisches Stoffbanner, auf dem zwei kleine, eindeutig antisemitische Karikaturen zu sehen waren, fatalerweise auf der wichtigsten Kunstausstellung dieses Landes. Ja, das hätte nicht passieren dürfen, ja, das musste untersucht werden. Ich bin nicht mal sicher, ob es abgehängt werden musste.

Aber hat dieser Anlass die monatelange Aufregung wirklich gerechtfertigt, all die Rücktrittsaufforderungen bis hoch zur Kulturministerin, all die überschnappenden Forderungen, die documenta vorzeitig zu schließen, wegen ‚Antisemitismus aus Steuergeldern‘? Zur gleichen Zeit, das wissen wir inzwischen, sammelten echte deutsche Rechtsradikale, die sich Reichsbürger nennen, in großem Stil Waffen, um mindestens ein Blutbad im Bundestag anzurichten. Vergleichen Sie doch einfach in Ihrer eigenen Erinnerung das Ausmaß und die Tonlage der Berichterstattung. Hier: Der größte Antisemitismusskandal seit mindestens Jahrzehnten, ins Land getragen von ebenso primitiven wie unheilbaren Judenfeinden aus dem Globalen Süden. Da: Bloß so ein schrulliger deutscher Adeliger im Tweedsakko, der lächerlicherweise einen Staatsstreich plante, der ohnehin nicht geglückt wäre. Und dann halten Sie gegen Ihre Erinnerung den Verfassungsschutzbericht.

Was in Deutschland heute schmerzlich fehlt, ist eine Wahrnehmung für die Vielfalt jüdischer Positionen. Vermutlich war das sogar zu Jakob Wassermanns Zeiten besser. Dass »die Juden« irgendetwas meinen, verbieten wollen oder für antisemitisch halten, ist nämlich unter anderem einfach eine antisemitische Trope. Daran arbeiten leider einige heutige jüdische Meinungsführer mit, die sich durchsetzen wollen, indem sie anderen ihr Jüdischsein absprechen, oder ihr Linkssein, wahlweise auch ihr Deutschgenugsein. Aber vielleicht – wenn ich versuche, optimistisch zu sein – stecken wir einfach mitten in einer Übergangszeit, mit den üblichen schrillen Verwerfungen. In einer Übergangszeit weg von den altbekannten Positionen des derzeit besonders konservativen Zentralrats und den unterhaltsamen bösen Buben vom Schlage eines Maxim Biller oder Henryk Broder hin zu einer differenzierteren Debatte, in der auch Stimmen wie Meron Mendel, Omri Boehm, Mirjam Zadoff, Fabian Wolff, Tomer Dotan-Dreyfus, Eva Illouz, Yossi Bartal und Miriam Rürup regelmäßig zu hören sein werden. Es gibt heute mehr als doppelt so viele Juden in Deutschland (225.000) als in den religiösen Gemeinden organisiert sind (92.000). Viele von ihnen sind Israelis, die inzwischen lieber hier leben. Ihre Perspektiven auf Deutschland sind anders und enorm bereichernd. Vor allem sind sie, was diese sehr deutschen Debatten wie die über die documenta anbelangt, geradezu stoisch. Sie haben andere Sorgen.

Ganz aktuell, während ich hier spreche, organisieren tausende in Berlin lebende Israelis mehrere Demonstrationen gegen Benjamin Netanjahu, der nächste Woche zum Staatsbesuch erwartet wird. In ihrem Aufruf steht: »Es ist verrückt, dass eine Regierung, die sich als israelfreundlich bezeichnet, einen Staatschef einlädt, dem von seinem eigenen Volk Korruption und ein Staatsstreich vorgeworfen wird.«

Einige meiner deutschen Freunde und ich haben seit Jahren einen unlösbaren Konflikt: Sie glauben, dass Deutsche sich zu Israel grundsätzlich nicht zu äußern hätten. Ich sage, in Deutschland müsste aber zumindest dafür gesorgt sein, dass alle jüdischen Positionen gleichberechtigt gehört werden. Das ist spätestens dann nicht mehr der Fall, wenn die Antisemitismusbeauftragten, die (erst) seit etwa vier Jahren aus dem Boden schießen wie Pilze, manchen »zu linken« Meinungen von Juden und Israelis öffentlich harsch entgegentreten, wie es regelmäßig der Fall ist. Wen wollen sie denn vor wem, und in wessen Namen, schützen?

Inzwischen muss man aber weiter gehen: So katastrophal, wie sich die Lage in Israel in den letzten Wochen rechtsstaatlich und sicherheitspolitisch entwickelt, muss sich auch der Umgang der deutschen Bundesregierung mit der derzeitigen israelischen Regierung ändern, und zwar zum Schutze des Rechtsstaats und der Menschenrechte, die wir ja von anderen internationalen Partnern ebenso fordern. Ich werde deshalb die Gelegenheit, dass ich heute – zu meiner großen Freude und Dankbarkeit – den Jakob-Wassermann-Preis bekomme, dazu nutzen, Ihnen zum Schluss ein paar solcher klaren und verzweifelten Sätze von Juden und Israelis vorzulesen, die es in den hiesigen Zeitungen zwar gibt, denen aber bisher nicht gelingt, diese merkwürdige deutsche Indifferenz gegenüber den dramatischen Entwicklungen in Israel zu durchdringen. Ich hoffe, dass das in Jakob Wassermanns Sinn wäre.

Der ehemalige israelische Botschafter Shimon Stein und Moshe Zimmermann, emeritierter Historiker  an der Universität Jerusalem, schreiben in der ZEIT: »Spätestens seit Angela Merkel die Sicherheit Israels zum Teil der deutschen Staatsräson erklärt hat, kann es an der Solidarität der Bundesrepublik mit Israel keinen Zweifel mehr geben. Doch was geschieht, wenn die Solidarität in Widerspruch zu deutschen Interessen, zu den Grundwerten der Bundesrepublik gerät? Solidarität heißt nicht automatisch Solidarität mit jeder israelischen Regierung. Gerade die Erinnerung an die NS-Zeit erfordert einen werteorientierten Umgang auch mit Israel (…) Nach dem deutschen Grundgesetz ist die Würde des Menschen unantastbar, nicht die Politik Israels.«

Und der junge Schriftsteller Tomer Dotan Dreyfus, der seit 10 Jahren in Berlin lebt, schreibt in der Berliner Zeitung: »Wenn man Jüdinnen und Juden in Israel bei ihren Demos unterstützt, müsste man morgen erklären, warum es in Ordnung sein soll, wenn dasselbe, wogegen da demonstriert wird, wenige Kilometer entfernt den Palästinenser:innen angetan wird. Und warum sie schon seit über 55 Jahren unter militärischem Gesetz leben, wo es offensichtlich keine Gewaltenteilung gibt, wo jeglicher Protest illegal ist. Ein roter Faden verbindet den palästinensischen Kampf für Freiheit von illegaler Besatzung mit den Demos der Israelis gegen die Entdemokratisierung ihres Landes. (…) Vor knapp über einer Woche randalierten radikale Siedler in der palästinensischen Kleinstadt Huwara im Westjordanland. Sie zündeten Häuser und Autos an, schlachteten Schafe. Am Tag darauf sagte Israels Finanzminister Bezalel Smotrich, es liege in der Hand des Staates, Huwara auszulöschen, nicht in der von Privatpersonen. Die US-amerikanische Regierung hat daraufhin deutlich gemacht, dass Netanjahu sich von Smotrichs Aussage distanzieren solle. Jüdische Organisationen in den USA appellierten an das State Departement, um Smotrichs US-Visum aberkennen zu lassen. Sie verstehen, dass die Verbindung, die einige zwischen ihnen und dieser Regierung ziehen, ihnen schaden wird. Und in Deutschland? Blankes Schweigen.«

Ich danke Ihnen sehr herzlich für diesen Preis und für Ihre Aufmerksamkeit.

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