Kongress 2024

Dritter Kongress des PEN Berlin: »So kommen wir weiter«
Hamburg, 2. November 2014. Alle Beiträge zum Nachlesen und/oder Nachhören


Etgar Keret:
»Was sollen wir jetzt tun?«

Etgar Keret
Etgar Keret bei seiner frei vorgetragenen Festrede. Foto: Jayrôme Robinet 

Einführung von Daniel Dylan Böhmer: »Als ich Etgar Keret kennenlernte war er Anfang 30 und galt als Gefahr für die israelische Literatur.« TEXT und AUDIO

Festrede von Etgar Keret: »Ich erinnere mich, dass meine Mutter in unserer Stadt jedes Jahr gebeten wurde, an einem Gedenkgottesdienst für den Holocaust teilzunehmen. Sie antwortete stets: ›Ich glaube, da liegt ein Irrtum vor. Ich habe den Holocaust miterlebt. Der Holocaust ist nicht mein Arbeitsplatz.‹ Diese Vorstellung vom Holocaust als Mosaik, in dem meine Mutter ein Steinchen sein sollte, hat sie nie akzeptiert. (…) Wir hörten bei uns zu Hause Wagner, und wenn die Nachbarn zu meiner Mutter sagten: ›Du weißt, dass die Nazis Wagner geliebt haben?‹, antwortete sie: ›Ja. Die Nazis mochten auch Apfelstrudel. Soll ich deshalb keinen Apfelstrudel essen?‹ Sie sagten darauf: ›Ja, aber du weißt doch, Wagner war selbst Antisemit.‹ Und meine Mutter sagte: ›Oh ja, ich weiß. Und wäre er in diesem Wohnzimmer, würde ich ihn vergiften. Aber er war ein großartiger Komponist, findet ihr nicht?‹ Diese Art, sich seine eigene Geschichte zu eigen zu machen, (…) ist für mich heute sehr wichtig.« TEXT und AUDIO (ENGLISCH)

Eva Menasse: »Nur so kommen wir weiter«

Eva Menasse
Eva Menasse bei ihrer Eröffnungs- und Abschiedsrede. Foto: Marie Eisenmann

Eröffnungs- und Abschiedsrede: »Vor zweieinhalb Jahren habe ich mich mit Deniz Yücel und vielen anderen in dieses Abenteuer geschmissen, einen neuen PEN zu gründen, weil es das war, was ich am meisten vermisst habe: eine lebendige Autorenvereinigung. Ein Zusammenschluss der schreibenden Menschen, die alle Individualisten und oft Querköpfe sind, aber ihren kleinsten gemeinsamen Nenner –  Wir können in diesem Land frei und unbeeinflusst schreiben – so sehr achten, dass sie bereit sind, ihn umzuschmieden zu einer starken Plattform. Einer Plattform, die die Rede-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit aller nach allen Seiten hin verteidigt, und die im Notfall die kontroversen, schwierigen und heiklen Diskussionen selbst organisiert. Eine Plattform, breit und sicher genug, um zumindest einigen von jenen Kolleginnen und Kollegen zu helfen, die in ihren Ländern verfolgt, eingesperrt, gefoltert oder ins Exil gezwungen wurden, nur wegen dem, was sie schrieben oder sagten.« TEXT und AUDIO

 

Publikumsdebatte: AfD verbieten?

Werdermann Ruch
Kontrahenten D. Werdermann (l.), P. Ruch. Foto [m]: M. Eisenmann

Impulsreferate des Autors Philipp Ruch und des Rechtsanwalts David Werdermann, anschließend Debatte im Publikum.
Ruch: »Die AfD hegt keine ›Gewaltfantasien‹. Was sie fordert und verspricht, sind Staatsverbrechen. (…) Obwohl Walter Lübcke von einem AfD-Wahlkampfhelfer erschossen wird. Obwohl in Thüringen das Haus eines Parteikollegen des Kanzlers brennt, empfiehlt Scholz, Olaf als Rezeptur gegen die AfD: ›Wählen gehen‹. Nun, es wurde gewählt. Und wie.« TEXT und AUDIO
Werdermann: »Faschismus ist ein Verbrechen. Aber die Befürwortung des Faschismus ist eine Meinung. Und als solche darf sie nicht wegen ihres Inhalts verboten werden. (…) Verbote sind in vielen Fällen nicht nur demokratietheoretisch und rechtlich fragwürdig, sondern auch strategisch unklug. Die Lage ist ernst, aber kein Grund, demokratische Prinzipien über Bord zu werfen.« TEXT und AUDIO
Publikum: »Aus der Dialektik, dass wir durch die Beschwörung der offenen Debatte unter Umständen an ihrer Abschaffung arbeiten, kommen wir nicht raus. Trotzdem sehe ich als einzige Möglichkeit, so zu agieren wie Philipp Ruch und Höcke das Mahnmal als Modell vor die Tür zu stellen. Wenn es die AfD nicht mehr gibt, kann Ruch das nicht mehr machen. Darum bin ich gegen ein Verbot.« AUDIO

Ivan Krastev und Fintan O’Toole: »Das ist das Mope-Syndrom − Most Oppressed People Ever«

Ivan Krastev Fintan O'Toole
Ivan Krastev (l.), Fintan O’Toole auf dem PEN-Berlin-Kongress. Foto: M. Eisenmann

»Leitfaden zum Weltuntergang«: Der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev und der irische Kommentator Fintan O’Toole im Gespräch mit Eva Menasse:
O’Toole: »Vor allem auf der Seite von Trump gibt es ein Gefühl, es den Leuten, die sie hassen, heimzuzahlen. Das wird zur Hauptantriebskraft und entwickelt seine eigene Logik: Sie haben uns das angetan, also müssen wir es ihnen heimzahlen. (…) Jemand in Belfast kam auf die Idee, von einem ›Mope-Syndrom‹ zu sprechen. Mope ist das englische Wort für ›Trübsal blasen‹, sich selbst leidtun. Mope-Syndrom bedeutet zugleich M.O.P.E. – Most Oppressed People Ever.« 
Krastev: Ich habe all das interessante Material, das kurz nach dem Ende des Kalten Krieges geschrieben wurde, erneut gelesen. Und das interessanteste Buch kam paradoxerweise weder von Huntington noch von Fukuyama, sondern von einem deutschen Autor: Enzensbergers Buch ›Bürgerkrieg‹, geschrieben 1993. Wenn Sie das Buch jetzt noch einmal lesen, werden Sie schockiert sein. AUDIO [ENGLISCH]

Kulturschaffende aus Ostdeutschland: »Das Kulturland Sachsen steht vor der Pleite«

Kultur Ostdeutschland
D. Ris, I. Helbijng, D. Morgenroth, J. Socher (v.l.n.r.) Foto: M. Eisenmann

Panel »Kultur im Osten unter Druck« mit: Daniel Ris, Daniel Morgenroth (Theater Senftenberg bzw. Görlitz) Iris Helbing (Kulturamt Meiningen) und Juliana Socher (Lesebühne Pirna), Moderation Linn Penelope Rieger (Schriftstellerin)
Morgenroth: »Ich muss die traurige Botschaft bringen, dass das Kulturland Sachsen kurz vor dem Kollaps steht.«
Socher: »Bei uns kommt der Druck aus einer anderen Ecke: Dass wir uns als ›Literarisches Komplott‹ selbst verpflichtet haben, Kultur für alle zu machen – in einer Stadt, die schwarz-weiß auf verbrieft, dass sie nichts für alle machen will, mit einem Oberbürgermeister, der nicht Politik, für alle machen will.«
Helbing: »Das Klima hat sich verändert. (…) Jude ist wieder ein Schimpfwort, dass Jugendliche mit Hitlergruß auf dem Schulhof stehen, ist total normal, Freundinnen muslimischen Glaubens werden ständig angefeindet, wenn sie ein Kopftuch tragen (…). Das ist kein schönes Klima und das macht mir Angst.«
Ris: »Wir laden auch die AfD-Wähler ein, wir laden niemanden aus. Aber genauso laut sagen wir, was wir auch an der Tür hängen haben: Kein Platz für Antisemitismus, Rassismus, Homofeindlichkeit.« AUDIO

Stella Nyanzi: »Uganda ist ein Freiluftgefängnis«

Stella Nyanzi
Stella Nyanzi auf dem PEN-Berlin-Kongress. Foto: Marie Eisenmann

»Schwulenhatz als Staatsraison«: Die ugandische Anthropologin und Lyrikerin Stella Nyanzi im Gespräch mit Sophie Sumburane: »Viele haben von dem Anti-Homosexualitätsgesetz in Uganda gehört, wir wissen von der Todesstrafe, von der lebenslangen Haftstrafe, von Gefängnis- und Geldstrafen und der Heilung des Geistes, also Psychotherapie. Aber was viele nicht wissen, ist das, was Schriftsteller, Autoren und Journalisten betrifft, nämlich das Recht auf freie Meinungsäußerung: In einem Abschnitt des Gesetzes gegen die Förderung der Homosexualität heißt es: Wer Wissen und Informationen über Homosexualität verbreitet, wird bis zu zwanzig Jahren Gefängnis bestraft. (…) Die gleichgeschlechtlich liebender Menschen ist furchtbar. Aber auch diese Kriminalisierung von Wissensproduktion ist inakzeptabel.« AUDIO (ENGLISCH)

 

 

Podiumsgespräch über innere Zensur: »Ich habe das Internet ausgeschaltet«

Grigorcea-Reisinger-Sulzer-Buchholz
D. Grigorcea, J. Reisinger, A. Sulzer, S. Buchholz (v.l.n.r.). Foto: M. Eisenmann

Die Schriftsteller:innen Simone Buchholz, Dana Grigorcea, Jovana Reisinger und Alain Claude Sulzer im Gespräch mit Jan Ehlert:
Reisinger:
»Vielleicht ist manchmal eine bestimmte kleine Schere nicht so verkehrt, weil man viel bewegen kann, wenn man sich löst von Stereotypen und Klischees.«
Sulzer: »Eine belletristische Literatur, die mit Fußnoten arbeitet, sollte nicht sein. Die Leute, die das lesen, werden verstehen, warum ich dieses Wort verwende. Nicht ich, sondern dieser Ich-Erzähler.«
Grigorcea: »Die Menschen, die die Bereitschaft aufbringen, unterschiedliche Perspektiven anzunehmen beim Lesen, die reagieren nicht mit Empörung auf ein Buch. Leute vom Rande unserer Literaturblase reagieren mit Empörung vom Hörensagen.«
Buchholz: »Ich habe das Internet ausgeschaltet. Man kann mir keine E-Mails mehr schicken, wenn man Adresse nicht hat. Social Media habe ich auch abgeschaltet. Seitdem geht es mir sehr viel besser und seitdem ist es mir viel mehr egal.« AUDIO

Autoren im Knast: Freiheit für Pham Dong Trang, Alaa Abdel Fattah, Toomaj Salehi!

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Alexandru Bulucz: »Wir appellieren an die deutschen Behörden, alle möglichen diplomatischen Wege zu gehen, Toomaj Salehi außer Landes zu bringen, an einen sicheren Ort, an dem sich niemand dafür entschuldigen muss, ein fundamentalistisches Unrechtsregime zum Teufel zu wünschen.« Außer um den eingesperrten iranischen Rapper Toomaj Salehi ging es auf dem Kongress um den seit über zehn Jahren in Ägypten inhaftierten prominenten Blogger und Autor Alaa Abd el-Fattah (Vorstellung: Sandra Hetzl) sowie um die vietnamesische Autorin und Menschenrechtlerin Pham Dong Trang (Vorstellung: Jayrôme Robinet). TEXTE UND AUDIOS

 

Carsten Brosda: Öffentlichkeit ist kein safe space

Carsten Brosda
Carsten Brosda beim Grußworten. Foto: Marie Eisenmann

Grußwort des Hamburger Kultursenators: »Es ist nicht möglich, eine Öffentlichkeit als safe space zu organisieren. Es ist nicht denkbar zu glauben, dass Freiheiten ungefährlich sind. Es wurde gefährlich in dem Moment, in dem Menschen sich – wir sind in der Hafenstadt – das erste Mal in ein Segelboot gesetzt haben und aus der eigenen Bucht rausgesegelt sind. Weil da wusste ich nicht mehr, wo die Steine im Wasser sind. Da konnte ich auf Grund laufen. Die Freiheit, das zu tun, hat mein Leben gefährdet. Natürlich hätte ich an Land bleiben können, da kann ich nicht ertrinken, richtig. Aber ich hätte die Welt auch nicht kennengelernt. Das heißt, ich kann Freiheiten nicht in Anspruch nehmen, ohne ein Bewusstsein für die Gefährdungen, die damit zu tun haben. Insofern kann ich auch nicht über die Frage ›Brauche ich so etwas wie Öffentlichkeit?‹ im Pro- und Contra-Modus reden.« TEXT und AUDIO

 

 

Presseberichte über den Kongress: »Etgar Kerets unglaubliches Kunststück«

Bascha Mika
Bascha Mika moderiert durch den Tag. Foto: Marie Eisenmann

DLF Kultur: »Hochkarätige Gäste hatte der PEN Berlin für diesen Nachmittag eingeladen. (…) Dass der PEN Berlin jedwede Boykotte ablehnt und die Meinungsfreiheit konsequent hochhält, betonte die scheidende Sprecherin Eva Menasse in ihrer Eröffnungs- und Abschiedsrede. Nachdem den PEN Berlin soeben wieder eine Anfrage erreicht habe, sich an einem sehr vage formulierten Boykottaufruf gegen Israel zu beteiligen, sei es ihr wichtig, nochmals zu betonen.« LINK
NDR Kultur:
»Die Debatte darüber, wie es um die Meinungsfreiheit im Osten bestellt ist, wurde auf einem Panel weitergeführt, das die Frage aufwarf, wie stark die Kulturszene im Osten unter Druck steht. Iris Helbig, Leiterin des Kulturamts Meiningen, bemerkt in Thüringen eine besorgniserregende Veränderung des gesellschaftlichen Klimas. (…) Daniel Morgenroth vom Theater Görlitz berichtete, dass seine Bühne nicht nur politisch, sondern auch finanziell in Bedrängnis gerät. ›Das Kulturland Sachsen steht kurz vor dem Kollaps‹, erklärt Morgenroth.« LINK

 

Daniel Kahn
Daniel Kahn spielt zum Abschluss. Foto: Jayrôme Robinet

Süddeutsche Zeitung: »Das auffordernde Motto des Kongresses, ›So kommen wir weiter‹, nahm am Ende der Festredner noch einmal auf, der israelische Autor Etgar Keret, über den sich im Vorfeld trotz der unversöhnlichen Debatten zum Krieg in Nahost niemand aufgeregt hatte – im Gegensatz zur letztjährigen Rednerin A. L. Kennedy. (…) Keret vollbrachte das unglaubliche Kunststück, über das ›Weiterkommen‹ in Israel nach dem 7. Oktober eine Stehgreifrede zu halten, in der er die verzweifelte Lage zwischen Schock, Verteidigungsbereitschaft und Ablehnung der Gewaltmittel und der Regierung, die sie einsetzt, mit klugem Witz reflektierte. (…) Keret vollbrachte das unglaubliche Kunststück, über das ›Weiterkommen‹ in Israel nach dem 7. Oktober eine Stehgreifrede zu halten, in der er die verzweifelte Lage zwischen Schock, Verteidigungsbereitschaft und Ablehnung der Gewaltmittel und der Regierung, die sie einsetzt, mit klugem Witz reflektierte.« LINK [€]


 

 

Dritter Kongress des PEN Berlin: So kommen wir weiter

Durch den Tag führt Bascha Mika, Alexandru Bulucz, Sandra Hetzl und Jayrôme Robinet stellen vor, wie es gefangenen Autoren geht.

14.00 Uhr | Eröffnungsrede von Eva Menasse (Schriftstellerin, Sprecherin PEN Berlin) 

14.30 Uhr | Die innere Zensur beim Schreiben | Podiumsdiskussion
Mit: Simone Buchholz (Schriftstellerin), Dana Grigorcea (Schriftstellerin), Jovana Reisinger (Schriftstellerin) und Alain Claude Sulzer (Schriftsteller). Moderation: Jan Ehlert (Journalist/NDR)

15.45 Uhr | Leitfaden zum Weltuntergang | Podiumsdiskussion
Mit: Ivan Krastev (Politologe) und Fintan O’Toole (Journalist/Irish Times). Moderation: Eva Menasse (Schriftstellerin)  

17 Uhr | Uganda: Schwulenhatz als Staatsräson | Gespräch mit Stella Nyanzi (Autorin). Moderation: Sophie Sumburane (Schriftstellerin)

17.30 Uhr | Nazis verbieten? | Impulsreferate und Publikumsdiskussion
Mit: David Werdermann (Rechtsanwalt), Philipp Ruch (Autor) und dem Publikum (Publikum). Moderation: Doris Akrap (Journalistin/taz) und Aron Boks (Slam Poet)

18.30 Uhr | Kultur im Osten unter Druck | Podiumsdiskussion
Mit: Iris Helbing (Leiterin Kulturamt Meiningen), Daniel Morgenroth (Intendant Theater Görlitz), Daniel Ris (Intendant Theater Senftenberg) und Juliana Socher (Lesebühne Pirna). Moderation: Linn Penelope Rieger (Schriftstellerin)

19.30 Uhr | Festrede von Etgar Keret (Schriftsteller) | Einführung durch Daniel-Dylan Böhmer (Journalist/Welt)

20.30 Uhr | Konzert von Daniel Kahn 
 
21 Uhr | Durchatmen, dann Disco |
Mit: Doris Akrap (Journalistin) und Simone Buchholz (Schriftstellerin)
 

 

 

 

Gefördert von/in Kooperation mit:

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