Eröffnungsrede auf dem PEN-Berlin-Kongress »Wer räumt das jetzt auf?«
29. November 2025, Säälchen, Berlin
»Warum tust du dir das eigentlich an?«
Von Thea Dorn

Seit ich mich vor einem Jahr auf das Amt der PEN-Berlin-Sprecherin eingelassen habe, gibt es eine Frage, die mir ständig gestellt wird: »Warum tust du dir das eigentlich an?« Und es gibt durchaus Momente, in denen ich mich das selbst frage. Deshalb will meine Rede zum Anlass nehmen, tatsächlich einmal darüber nachzudenken, warum ich mir das antue, anstatt die Frage je nach Tagesform achselzuckend bis gereizt abzutun oder zu rufen: »Na, weil’s ein irres Vergnügen ist!«
Ich vermute, Entscheidungen, die den Alltag so dramatisch verändern wie die, die ich vor einem Jahr getroffen habe, haben in aller Regel etwas mit der eigenen Lebensgeschichte zu tun. Trotzdem will ich hier keine autobiographische Nabelschau veranstalten. Denn ich vermute, dass meine Entscheidung ebenso sehr mit allgemeineren Konstellationen der Zeit zu tun hat. Deshalb hoffe ich, dass Überlegungen zu der Frage, warum ein Mensch, der in seinem privaten und beruflichen Leben mehr als genug zu tun hat, sich auf ein kraft- und zeitintensives (ich sage nicht: -raubendes) Ehrenamt einlässt – dass Überlegungen zu dieser Frage von allgemeinerem Interesse sein könnten.
Vielleicht beginne ich mit dem Lebensirrtum, der nicht nur mein persönlicher Lebensirrtum gewesen ist, sondern der Lebensirrtum der meisten Menschen sein dürfte, die das – menschheitshistorisch und global betrachtet – unwahrscheinliche Glück hatten, in einem freiheitlich-demokratisch verfassten Gemeinwesen aufzuwachsen. Der Irrtum geht so: Einmal installiert, hat der freiheitlich-demokratische Staat etwas vom Duracell-Häschen. Solange niemand an der grundsätzlichen Konstruktion herumpfuscht – Gewaltenteilung und freie Wahlen –, genügen Wirtschaftswachstum bzw. Steuereinnahmen, und das Häschen läuft und läuft und läuft. Wobei das Häschen natürlich eher ein Häuschen ist, in dem sich ein jeder von uns einrichten mag, wie es ihm beliebt.
Wenn das Duracell-Häschen stottert
Weniger niedlich ausgedrückt: Eben darin besteht die Freiheitlichkeit liberaler Demokratien: dass sie den Einzelnen weitestgehend in Ruhe lassen; dass sie möglichst wenig von uns wollen; dass wir unsere ganze Energie darauf verwenden können, aus unserem jeweiligen Leben irgendwie das Beste zu machen, beruflich, privat. Liberale Demokratien sind Ermöglichungsräume, die der Einzelne möglichst wenig spüren soll.
Beschreibt man die Lage demokratischer Staaten so, wird klarer, woher seit einer Weile die miese Stimmung kommt. Das Duracell-Häschen ist ins Stottern geraten. Der jahrzehntelang so diskret im Hintergrund funktionierende Ermöglichungsraum macht sich auf einmal störend bemerkbar: Hier geht plötzlich kein Licht mehr an, wenn man den Schalter drückt; dort reagiert niemand mehr, wenn man klingelt. Kein Wunder, dass der verstimmte Bürger – oder soll ich lieber gleich sagen: der verstimmte Kunde? –, zunehmend gereizt auf alle möglichen Knöpfe haut – allerdings nur, um die Erfahrung zu machen, dass der Service dadurch nicht besser wird. Die da oben sollen endlich liefern, denkt der erzürnte Bürgerkunde. Und die da oben, die liefern zwar immer noch nicht, aber sie werden nicht müde, Bücklinge zu machen und Besserung zu geloben, denn heißt es nicht: »Bei uns ist der Kunde König?« Und wenn im Dienstleistungsstaat der Bürger eben weniger Bürger als vielmehr Kunde ist, ist dann nicht der Bürger der heimliche, wahre König?
Womöglich ist das Bild vom Bürger als König weniger absurd, als es in der Dienstleistungsdemokratie daherkommt. Dass vor zweieinhalbtausend Jahren in Athen und dann wieder vor rund 250 Jahren in Europa und den USA Teile der Menschheit in das Abenteuer »Demokratie« aufgebrochen sind, dürfte tatsächlich viel mit der Vorstellung zu tun gehabt haben, dass Menschen nicht auf der Welt sind, um Untertanen zu sein. »Weg mit den Königen!«, war schon immer der – teils rabiater, teils halsschonender – umgesetzte Schlachtruf demokratischer Revolutionäre. In diesem Sinne ist es nicht völlig falsch zu behaupten, dass in dem Moment, in dem sich der Bürger, das Volk, zum Souverän erhebt, der Bürger, das Volk, zum König wird. Aber was heißt das? Ist der Bürger als Teil des Souveräns ein launischer, jähzorniger, kindischer König? Oder ist er bereit, seine Souveränität als Auftrag, als Verpflichtung zu begreifen, sich eben nicht wie ein launischer, jähzorniger Kindskopf zu verhalten, sondern zu begreifen, dass die Verantwortung, ob es dem Gemeinwesen gut oder schlecht ergeht, auch in seinen Händen liegt?
Versuch, der staatsbürgerlichen Verzweiflung zu entkommen

»Frau Dorn, geht’s nicht eine Nummer kleiner?«, könnte man an dieser Stelle natürlich fragen. „Bilden Sie sich wirklich ein, zum Wohl des Gemeinwesens beizutragen, indem Sie Sprecherin einer Autorenvereinigung geworden sind, die zwar grundsympathisch und einer noblen Sache verpflichtet und deshalb offiziell als gemeinnützig anerkannt sein mag, aber bisweilen doch eher zu Querulantismus und Befindlichkeitstheater neigt?“ Es gehört eine ordentliche Portion Verrücktheit dazu, sich auf dieses Amt einzulassen, aber nein: So verrückt bin ich dann doch nicht. Ein PEN Verein ist ein PEN Verein ist ein PEN Verein.
Und dennoch. Wenn ich die vergangenen zwölf Monate unter eine Überschrift stellen müsste, würde sie lauten: »Versuch, der staatsbürgerlichen Lähmung«, oder richtiger noch: »der staatsbürgerlichen Verzweiflung zu entkommen«. Denn ja: Ohne dass ich dabei wäre, am Gesamtzustand unseres demokratisch verfassten Gemeinwesens zu verzweifeln, vielleicht sogar am Zustand der Demokratie überhaupt – ohne diese Verzweiflung hätte ich mich auf dieses Amt nicht eingelassen.
Aber wird’s jetzt nicht schon wieder viel zu groß? Ein klarer Fall von tragischer – oder vielleicht auch bloß peinlicher – Selbstüberschätzung? Mit PEN Berlin die Demokratie retten – schon klar … Allerdings frage ich mich als Autorin: Ist Selbstüberschätzung nicht ohnehin unser ständiger Begleiter? Glauben wir, wenn wir schreiben und diese Texte dann auch noch veröffentlichen, nicht alle daran, dass das, was wir auszudrücken, mitzuteilen haben, so relevant ist, dass es da draußen irgendwen interessiert? Geraten wir, wenn wir zu der Überzeugung kommen, dass unsere Texte niemanden mehr erreichen, nichts mehr bewirken – geraten wir dann nicht in Verzweiflung bzw. in Sinnkrise und Lähmung? Aber ist dies nicht der Moment, in dem sich der Durch-und-durch-Schriftsteller vom Gelegenheits-Schriftsteller unterscheidet? Ersterer schreibt unbeirrt weiter, weil er schreiben muss – auch wenn es scheinbar keinen Sinn mehr hat
Wir müssen den Citoyen in uns wachküssen

Der logische Schluss aus dem eben Gesagten scheint zu sein: Dann setz dich halt hin und bring den umfangreicheren Demokratie-Essay, der seit anderthalb Jahren als Torso auf deinem Computer herumliegt, endlich zu Ende! Mein Verlag würde diesem Schluss leidenschaftlich zustimmen. Warum also, statt gegen die Verzweiflung anzuschreiben, wie es sich für eine Schriftstellerin gehören würde, sich in ein Vereinsamt stürzen – das vermutlich dafür sorgen wird, dass der Essay ein weiteres Jahr Torso bleibt? Um darauf – vielleicht – eine Antwort zu finden, muss ich zu dem Stoßseufzer kommen, der regelmäßig in Gesprächen mit denjenigen Freunden und Bekannten auftaucht, die nicht wissen wollen, »warum ich mir das antue«, sondern es im Gegenteil »ganz großartig“ finden. Neigt die Fraktion »warum?« eher zu einer skeptischen bis zynischen, also vermeintlich realistischen Haltung, was öffentliches Engagement angeht, hängt die Fraktion »großartig« grundsätzlich einem gewissen demokratischen Idealismus an. Allerdings ist sie in aller Regel ratlos, was aus dieser grundsätzlichen Bereitschaft, sich für das Gemeinwesen zu engagieren, konkret folgen soll. Deshalb taucht in diesen Gesprächen mit schöner Regelmäßigkeit der Stoßseufzer auf: »Man müsste ja was machen – aber was nur und wie?« Mein ebenso regelmäßig vorgebrachter Vorschlag, den Stoßseufzer in die Devise zu übersetzen »Wir müssen den Citoyen in uns wachküssen«, findet meist große Zustimmung – hilft in der Sache aber auch nicht weiter. Denn wie soll das praktisch gehen, die res publica, die »öffentliche Sache«, zur eigenen Sache zu machen?
Vor rund zweieinhalbtausend Jahren in Athen war noch relativ klar, wie das geht: Alle, das heißt alle erwachsenen, männlichen, nicht versklavten Einwohner Athens, die überdies von zwei Athenern abstammten, kamen – ganz gleich, in welchen Berufen sie tätig waren – regelmäßig zusammen, um die Belange der Polis gemeinsam zu diskutieren und zu entscheiden, was getan wird. Ja, die attische Demokratie war sogar so radikaldemokratisch, dass die meisten politischen Ämter schlicht und einfach verlost wurden. Sprich: Jeder musste damit rechnen, dass ihn das Ämterlos eines Tages ereilte.

Sollte jemals ein Athener auf die Idee gekommen sein, einen anderen Athener, der gerade in ein Amt gewählt – oder gelost worden war – zu fragen: »Warum tust du dir das eigentlich an?«, hätte jener vermutlich eine Faust im Gesicht gehabt bzw. die entrüstete Gegenfrage kassiert: »Hältst du mich etwa für einen Idioten?«
Unter »Idiot« verstand man im antiken Athen jeden, der sein Bürgersein im modernen Sinne auffasste – der von seinem Gemeinwesen in erster Linie in Ruhe gelassen werden wollte, um ungestört seinem Berufs- und Privatleben nachzugehen. Nun hatte die attische Demokratie, so vorbildlich sie in Sachen bürgerschaftlichem Engagement gewesen ist, einige erhebliche Schönheitsfehler. Den ersten habe ich bereits angedeutet: Zur Bürgerschaft gehörten nur diejenigen, die es im Prozess der allmählichen Demokratisierung Athens geschafft hatten, ihre Ansprüche auf Mitsprache und Mitbestimmung durchzusetzen: zunächst die Männer der Mittelschicht, später auch die der unteren Schichten. Frauen, Fremde und Sklaven hatten selbst auf dem Höhepunkt der attischen Demokratie nichts zu melden und schon gar nichts mitzubestimmen. Der zweite Schönheitsfehler betrifft die ökonomischen Grundlagen des dauerengagierten Bürgers. Man muss es sich erst mal leisten können, die Erwerbsarbeit tagelang zu vernachlässigen, um sich den Belangen des Gemeinwesens zu widmen. Athen löste das Problem, indem es nicht erst für die Übernahme eines politischen Amtes, sondern bereits für die bloße Teilnahme an der Volksversammlung Diäten zahlte. Allerdings musste das Geld für die Diäten irgendwo herkommen – und die hässliche Wahrheit dürfte sein: Ohne dass Athen eine Sklavenhaltergesellschaft gewesen wäre und ohne dass man permanent gegen irgendwen Krieg geführt hätte, was Kriegsbeute bedeutete – was wiederum noch mehr Sklaven bedeutete –, hätte sich die intensive Bürgerbeteiligungsdemokratie niemals finanzieren lassen.

Diese ersten beiden Schönheitsfehler haben nahezu keinen zeitgenössischen Kritiker der attischen Demokratie gestört bzw. wurden mitnichten als Fehler wahrgenommen. Sehr wohl aber wurde diesem wagemutigen Modell, die Regierung in einem Staat von unten zu organisieren, von Anfang an etwas Anderes vorgeworfen: Dilettantismus. Verkürzt lautet der Vorwurf so: Wenn es darum geht, wie ein Schiff zu bauen oder eine Krankheit zu therapieren ist, berufe ich ja auch nicht Krethi und Plethi ein, damit sie diskutieren und entscheiden, was zu tun ist – oder lasse gar auslosen, wer im kommenden Jahr Arzt und wer Schiffsbauer wird. Vielmehr wende ich mich an Fachleute. Warum aber sollen Krethi und Plethi imstande sein, ausgerechnet wenn es um die Belange des gesamten Gemeinwesens geht, vernünftige Entscheidungen zu treffen, die zu vernünftigen Handlungen führen? Der vierte Schönheitsfehler hat etwas mit Arithmetik zu tun. Ebenfalls ganz kurz: Hätten von den 30.000 bis 50.000 Menschen, die in Athen als Bürger galten, tatsächlich alle politisch aktiv werden wollen, wäre der Laden zusammengebrochen. Und hätten von den maximal 6.000 Teilnehmern, die jede Volksversammlung schätzungsweise hatte, tatsächlich alle darauf bestanden, mitzudebattieren, hätte die Diskussion eines jeden Tagesordnungspunktes mehrere Wochen gedauert.
Repräsentation statt Partizipation
Der US-amerikanische Politologe Robert A. Dahl bringt dieses Dilemma, das aus Zahl und Zeit entsteht, auf die Formel: »Je mehr Bürger eine demokratische Einheit umfasst, desto weniger direkt können diese Bürger an der Regierungsentscheidung beteiligt werden und desto mehr Autorität müssen sie an andere delegieren.« So gesehen scheint es nachgerade zwingend, dass bei der Wiedergeburt der Demokratie, die in Flächenstaaten, sprich Massengesellschaften stattfand und bei der man sich darüber hinaus die Gleichheit aller Menschen zumindest mal auf die Fahnen geschrieben hatte, also noch viel mehr Menschen im Prinzip eingeladen gewesen wären, mitzudebattieren und mitzumachen – unter den Bedingungen moderner Demokratien scheint es zwingend, dass vom ursprünglichen Ideal der unmittelbaren, engagierten, den individuellen Alltag prägenden Bürgerbeteiligung nichts mehr übrigbleiben kann.

Repräsentation statt Partizipation scheint die einzig mögliche Konsequenz zu sein. Wer sich mit dieser Konsequenz abfindet, muss seine Energie – wenn ihm denn die Krise, in die die Demokratie im 21. Jahrhundert geraten ist, keine Ruhe lässt – auf die Lösung des Repräsentationsproblems verwenden. Wer aber überzeugt ist, dass die rein repräsentative Demokratie auf Dauer und mehr noch unter den Bedingungen der hoch individualisierten, kapitalistischen Spätmoderne zu gar nichts Anderem führen kann als zu der vernölten Erwartungshaltungs- und Dienstleistungsdemokratie, in der wir gelandet sind – der hat ein noch viel größeres Problem am Hals.
Ich fürchte – Sie ahnen es –, ich gehöre zur Gruppe dieser Unglückseligen. Denn hockt man mit dieser Überzeugung nicht in der perfekten Falle? Habe ich nicht eben selbst geschildert, dass sogar dort, wo die Demokratie erfunden und zum ersten Mal erprobt worden ist, das, was Hannah Arendt so schön »öffentliches Glück« nennt, auf teils wackligen, teils verabscheuenswürdigen Füßen gestanden hat? Muss dieses Glück unter den Bedingungen der Gegenwart nicht endgültig zur Schimäre werden? Und bin ich nicht gleichzeitig ein Kind – oder mehr noch: eine leidenschaftliche Verfechterin der liberalen Haltung, dass ein jeder nach seiner Façon selig – bzw. unglückselig – werden soll? Und zum Zauber des Nach-der-eigenen-Façon-selig-bzw.-unglückselig-Werdens gehört nun mal ein Staat, der mich in Ruhe lässt. Was aber, wenn dieser zauberhafte, mich in Ruhe lassende Staat in Richtung autoritärer Staat marschiert – wie etwa in den USA? Muss ich mich dann nicht engagieren – um mich dafür einzusetzen, dass mich dieser Staat auch morgen in Ruhe lässt? Muss ich die res publica nicht plötzlich zu meiner eigenen Sache machen?
Womit wir allerdings aufs Neue beim Stoßseufzer von vorhin gelandet wären: »Müssen täte man schon – aber wie nur?« Jetzt, da das geistige Hinterland ein wenig erkundet ist, traue ich mich, eine sehr steile These in den Raum zu stellen. Nein, dieser Verein hier, PEN Berlin, wird die Demokratie nicht retten. Aber dieser Verein ist derzeit eine der besten Möglichkeiten, das Zoon politikon in sich zu spüren, zu erfahren, was das »öffentliche Glück“, von dem Hannah Arendt sprach, vielleicht sein könnte. Dieser Verein ist, wenn man so will, ein friedliches, universalistisch gesinntes Mini-Athen. Dass ich mich zu diesem Bild versteige, hat noch einen anderen, tieferen Grund. In Deutschland gibt es mehr als 600.000 Vereine, Organisationen, NGOs, in denen sich Bürger ehrenamtlich engagieren; in denen sie Woche für Woche, bisweilen Tag für Tag, die Erfahrung machen, dass Bürgersein sich nicht darin erschöpft, morgens zur Arbeit zu gehen, um es sich abends nett zu machen. Aber ich wage zu behaupten, dass es derzeit in Deutschland keinen Verein gibt, der sich so konsequent und umfassend für etwas einsetzt, ohne das es nun wirklich niemals Demokratie gegeben hätte: die Meinungsfreiheit.

Nicht dauerrot sehen
Ein allerletzter Ausflug ins antike Athen. Jahrzehnte bevor sich dort der Begriff »Demokratie« einbürgerte, gab es ein Begriffspaar, das das einzigartig Neue, was dort auf dem Gebiet des Politischen riskiert wurde, umriss: isegoria und parrhesia. Mit »Isegorie« war das gleiche Rederecht für alle Teilnehmer der Volksversammlung gemeint. Deutlich schwieriger ist der zweite Begriff zu übersetzen: »Parrhesie«. »Redefreiheit« ist nicht falsch, aber letztlich unzureichend. Das volle Bedeutungsfeld reichte von der Selbstverpflichtung, in der Volksversammlung möglichst freimütig und möglichst der Wahrheit verpflichtet zu reden, bis hin zum Recht, keine Repressalien befürchten zu müssen, wenn man sich und seine Meinungen auf diese Weise exponierte. Am besten versteht man das Pathos der Parrhesie, wenn man einen Athener selbst zu Wort kommen lässt. Es handelt sich um einen gewissen Diodotos, der zuvor von einem gewissen Kleon in der Volksversammlung übel angegangen worden war. Glaubt man Thukydides, hat jener Diodotos im Sommer 427 vor Christi erklärt: »Der gute Bürger aber soll die Gegenredner nicht einschüchtern, sondern von gleich zu gleich seine Vorschläge als die besseren erweisen, und eine vernünftige Stadt wird ihrem besten Ratgeber zwar nicht besondere Ehre erweisen, aber auch nicht die vorhandenen schmälern; schon gar nicht darf sie denjenigen, der mit seinem Plan nicht durchdrang, bestrafen. Sie darf ihn auch nicht des Ansehens berauben.«
Ich muss bei diesen Sätzen unweigerlich an den Zustand dessen nennen, was wir heute erleben und was den Namen »Debattenkultur“ eigentlich nicht mehr verdient. Die Einschüchterung des Gegenredners ist mittlerweile zum Normalfall geworden. Anstatt sich weiter mit den Positionen des Gegenredners auseinanderzusetzen, anstatt „von gleich zu gleich seine Vorschläge als die besseren zu erweisen“, hofft man, sich durchzusetzen, indem man den Gegner „des Ansehens beraubt“, sprich: beleidigt oder offen verleumdet.
Dieser Unsitte sind nicht bloß die verfallen, die das Pöbeln zu ihrem eigentlichen Lebenszweck gemacht zu haben scheinen. Die Unsitte kommt mittlerweile in allen möglichen politischen und weltanschaulichen Farben daher bzw. sind sich Anhänger der verschiedensten politischen und weltanschaulichen Couleur verblüffend einig darin, dass sie im Grunde nur noch eins sehen: rot.
Und damit komme ich zu dem, was für mich die Seele dieses Vereins ist: nein, nicht der »Knatsch« – sondern dass wir versuchen, nicht dauerrot zu sehen; dass wir die Idee der Parrhesie ernstnehmen; dass wir es aushalten, wenn andere Vereinsmitglieder Positionen vertreten, die wir selbst für falsch halten; dass wir uns mit diesen anderen Positionen auseinandersetzen, anstatt die Person, die sie vertritt, zu beleidigen oder zu verleumden; dass wir nicht fordern, jemand möge diese unmögliche Person vom Platz stellen; dass wir nicht selbst mit maximal empörter Geste das Spielfeld verlassen.

Diejenigen unter Ihnen, unter Euch, die mit den Vorgängen in diesem Verein vertraut sind, werden zwangsläufig an den Konflikt denken, der PEN Berlin entgegen manch reißerischer Schlagzeile nicht zerlegt, aber doch mehrfach erschüttert hat. Ich meine den Konflikt um den Nahost-Konflikt.
Bis heute bin ich nicht sicher, ob es uns gelungen ist, beim Thema Gaza-Krieg, bei einem der Themen, die am allerverlässlichsten dafür sorgen, dass nicht mehr geredet und zugehört, sondern nur noch unterstellt und geschrien und beleidigt wird – ob es uns gelungen ist, es bei diesem Thema wirklich besser zu machen; oder ob wir nicht doch dem Zeitgeist der aggressiven Unduldsamkeit, der geistigen und emotionalen Selbstbetonierung erlegen sind.
Dafür, dass wir es nicht besser gemacht haben, spricht, dass etliche Mitglieder aus den unterschiedlichsten, teils entgegengesetzten Gründen, teils in stiller Enttäuschung, teils in lautem Zorn ausgetreten sind. Dafür, dass wir es zumindest ein bisschen besser gemacht haben, spricht, dass deutlich mehr Mitglieder, als 2023/24 ausgetreten sind, vor ziemlich genau einem Jahr gemeinsam einen offenen Brief verfasst haben, in dem sie ihr Vertrauen in die prinzipielle Fähigkeit von PEN Berlin, es besser zu machen, bekräftigt haben; Mitglieder die, das will ich betonen, in der Frage, wie man als denkender, fühlender Mensch auf die Tragödie in Israel und in Gaza blicken soll, ebenfalls höchst unterschiedliche Positionen vertreten. Diese Mitglieder haben sich so verhalten, wie es zu dem passt, was ich die Seele dieses Vereins genannt habe: Sie haben der Gegenseite nicht die bösesten Absichten und niedrigsten Motive unterstellt; sie haben die Gegenseite nicht diffamiert; sie haben nicht versucht, Kollegen, die eine klare Position vertreten, aber keine Extremisten sind, in die extremistische Ecke oder zumindest in die Ecke der Extremismus-Versteher zu schieben. Dafür mein herzlichster Dank.

Dennoch haben wir – d.h. Deniz Yücel und ich, das gesamte Board von PEN Berlin – uns gefragt, ob wir es nicht versäumt haben, Formate zu entwickeln, Gesprächsveranstaltungen zu initiieren, die verhindert hätten, dass sich der Druck, der sich selbstverständlich auch in unserem Verein seit dem 7. Oktober 2023 aufgebaut hat, im Streit um eine Resolution entlud. Meine persönliche Überzeugung: Ja, wir haben es versäumt. Gesprächsräume lassen sich – verblüffende Erkenntnis! – am besten offenhalten, indem man sie nutzt; nicht unbedingt, indem am Schluss partout eine gemeinsame Resolution herauskommen muss. Ich will hier keinen Tätigkeitsbericht der vergangenen zwölf Monate liefern – das kommt morgen bei der Vollversammlung –, aber zwei PEN-Berlin-Aktionen aus diesem Jahr möchte ich erwähnen, weil sie mir zu zeigen scheinen, was der Verein leisten kann, wenn es ihm gelingt, auf der Höhe der Probleme zu agieren.
Klütz: Der Marktplatz als Agora
Den Versuch, einen sich schließenden Gesprächsraum wieder zu öffnen, hat PEN Berlin Ende September in Klütz unternommen. Auf Druck der Stadtpolitik hatte der Leiter des ortsansässigen Literaturhauses »Uwe Johnson« unser Gründungsmitglied Michel Friedman von einer geplanten Veranstaltungsreihe – in memoriam Hannah Arendt – im Herbst 2026 ausgeladen. Wir haben recht schnell mit einer Presseerklärung reagiert, in der wir die Ausladung kritisiert haben – in der wir uns aber nicht angemaßt haben zu behaupten, wir wüssten, welche Gründe oder Motivlagen in dem bis heute nicht vollständig zu entwirrenden Knäuel nun tatsächlich zu der Ausladung geführt haben. Außerdem war für uns im Board sehr schnell klar: Wenn Klütz Michel Friedman auslädt, fragen wir Michel Friedman, ob er mitkommt, wenn PEN Berlin ihn zu einer Kundgebung nach Klütz einlädt.
Gegen diese Kundgebung gab es im Vorfeld Bedenken – sowohl seitens zahlreicher Klützerinnen und Klützer – mit einigen von ihnen haben Deniz und ich in der Woche vor der Kundgebung gesprochen, um wenigstens etwas besser zu verstehen, wie es zu der Ausladung gekommen ist. Bedenken gab es aber auch seitens einiger Vereinsmitglieder, die befürchteten, bei der Kundgebung werde es sich um eine typische Besser-Wessi-Aktion handeln. Ich hoffe, durch die Art und Weise, wie wir die Kundgebung veranstaltet haben, ist es gelungen, Skeptiker sowohl in Klütz als auch in unserem Verein davon zu überzeugen, dass wir nicht dorthin gefahren sind, um zu belehren. Selbstverständlich sind wir dorthin gefahren, um gegen die Ausladung zu protestieren. Aber wir sind auch dorthin gefahren, um zu diskutieren – vor allem mit den 500 bis 600 Menschen, die sich auf dem Marktplatz von Klütz versammelt haben; ein Vorgang, der Zeit-Online zu der Formulierung inspirierte, der Marktplatz sei »wirklich eine Agora« geworden.
Am Ende waren dort – neben den notorisch Verbiesterten – jedenfalls erstaunlich viele erfreute, dankbare Gesichter zu sehen. Vielleicht ist es diesen Teilnehmern der Kundgebung ergangen wie mir: Sie haben die Erfahrung gemacht, welches Glück es bedeuten kann, wenn ausnahmsweise mal eine öffentliche Auseinandersetzung stattfindet, die den Namen verdient; wenn es Schreihälsen nicht gelingt, eine Veranstaltung zu sprengen oder gleich zu verhindern; wenn es Pöblern nicht gelingt, den Ton zu dominieren. Dass der Konflikt zwischen der Klützer Stadtpolitik und dem Literaturhausleiter dann doch kein konstruktives Ende gefunden hat, war selbstverständlich nicht beglückend. Aber zur Toleranz, ohne die eine Demokratie nicht funktionieren kann, gehört eben auch die Frustrationstoleranz.
Boualem Sansals Freilassung
Ein hohes Maß an Frustrationstoleranz erforderte der Fall, der uns bei PEN Berlin die vergangenen zwölf Monate beschäftigt hat: Die Inhaftierung des algerisch-französischen Schriftstellers Boualem Sansal im November 2024. Die algerische Justiz verurteilte ihn wegen »Angriffs auf die Nationale Einheit«, wobei der so genannte „Angriff“ in nichts Anderem als darin bestand, dass Boualem Sansal von seinem Menschenrecht auf Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht hat. Lange, viel zu lange, sah es aus, als ob jeglicher Protest, ganz gleich von welcher Seite er kam, bei den Machthabern in Algier gar nichts bewirken würde.
Dass Boualem Sansal vor gut zwei Wochen endlich doch freigekommen ist, verdankt sich der stillen, hartnäckigen Diplomatie von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und des Auswärtigen Amts. Aber ich bezweifle, dass sich die deutsche Politik des Falls angenommen hätte, wenn nicht PEN Berlin zusammen mit dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels und auch zusammen mit dem deutschen PEN-Zentrum mit Sitz in Darmstadt und weiteren Akteuren – wenn nicht all diese Institutionen gemeinsam und hartnäckig immer wieder an das Schicksal des zu Unrecht inhaftierten Kollegen in Algier erinnert hätten. Und ja, es braucht schon wieder ein hohes Maß an Frustrationstoleranz, wenn man sich klarmacht, dass sich die Freilassung Sansals lediglich einer »Begnadigung« verdankte und keinem Freispruch, wie es sich gehört hätte; wenn man sich klarmacht, dass immer noch Schriftsteller und Journalisten weltweit in Gefängnissen sitzen oder anderen staatlichen Repressionen ausgesetzt sind. Oder wenn man sich klarmacht, dass an zahlreichen Orten der Welt Autoren und andere Freiheitsliebende Tag für Tag darum kämpfen, dass sich die Verhältnisse in ihrem autoritär regierten Land demokratisieren – und wir feststellen müssen, dass wir nur sehr bedingt helfen können, dass sich die deutsche Öffentlichkeit, die deutsche Politik nur sehr bedingt dafür interessieren.

Einfache Antwort auf eine schwierige Frage
Noch viel mehr Frustrationstoleranz braucht es, wenn man mitbekommt, dass die »Migrationswende«, die Bundesinnenminister Alexander Dobrindt ausgerufen hat, dazu führt, dass nicht einmal mehr Menschen, die in ihren Herkunftsländern das eigene Leben riskieren, weil sie dort für Freiheit und Demokratie kämpfen, humanitäre Visa für einen Aufenthalt in Deutschland bekommen. Wenn man mit all dem täglich konfrontiert ist und wenn man dann auch noch von der zigsten Ausladung eines »umstrittenen« Autors oder Künstlers von irgendeiner Uni, irgendeinem Festival, irgendeinem irgendwas hierzulande liest, fällt es bisweilen schwer, auf die Frage »Warum tust du dir das eigentlich an?« nicht zu antworten: »Du hast ja Recht. Es ist der schiere Donquijotismus, den wir da treiben.«
Doch wenn ich in die Gesichter derer schaue, die auf dem Marktplatz von Klütz friedlich demonstriert und knapp zwei Stunden mehr oder minder zivilisiert miteinander diskutiert haben; wenn ich gemeinsam mit Board-Kolleginnen und -kollegen gegen die willkürliche Verhaftung eines Schriftstellers protestiere; wenn ich Kolleginnen und Kollegen treffe, die in ihren Herkunftsländern verfolgt sind, und denen wir mit Visa und Stipendien helfen konnten und trotz aller Widrigkeiten immer noch können; wenn ich mir das erste Interview anschaue, das Boualem Sansal nach seiner Freilassung gegeben hat – dann wird die Antwort auf die Frage, »Warum tust du dir das eigentlich an?«, plötzlich ganz einfach: »Deshalb.« .
Manuskriptfassung der Eröffnungsrede, die Thea Dorn am Sonnabend, dem 29. November 2025 auf dem Kongress des PEN Berlin im Säälchen gehalten hat.
* Thea Dorn, geboren 1970, Schriftstellerin, Essayistin, Gastgeberin der ZDF-Sendung Das Literarische Quartett, seit November 2024 Sprecherin des PEN Berlin.