Festrede auf dem Kongress des PEN Berlin am 2. November 2024 in Hamburg
»Was sollen wir jetzt tun?«
Von Etgar Keret
[Im Original hören oder im Original lesen]
Ich trete vor Publikum seit – ich bin 57 – seit mehr als 30 Jahren auf. Aber irgendwie fühlt das hier sich an wie mein erster Bühnenauftritt. Deshalb bin ich ein bisschen aufgeregt. Denn der 7. Oktober war eine Art Reboot von allem, was vorher existiert hat. Und wenn ich mich jetzt an meine letzte Rede in Europa zu erinnern versuche, kommt es mir vor, als wäre das 200 Jahre her.
Ich habe nichts aufgeschrieben, ich rede einfach. Ich hoffe, es ergibt Sinn. Tut mir leid, wenn nicht.
In den ersten drei oder vier Monaten nach dem 7. Oktober nahmen alle Menschen, die ich kenne, sich selbst in die Pflicht, etwas Nützliches zu tun. Viele Leute kochten, andere fuhren andere Menschen, die gefahren werden mussten. Ich kann weder kochen noch Autofahren, also sagte ich zu meiner Frau, wir müssen etwas Nützliches finden, was wir tun können. Und so gingen wir dann zu allen möglichen Gruppen und Gemeinschaften von Überlebenden und sprachen mit ihnen.
Ich habe Zugriff auf medizinisches Marihuana, also habe ich Leuten Joints gegeben, wenn sie einen wollten. Ich habe mit Kindern Yoga gemacht. Es war eher ein Umherstreifen im Versuch, sich nützlich zu fühlen. Und wenn man irgendwohin kam, war es oft unangekündigt, das Publikum bestand also aus drei Menschen. Von denen einer einschlief. Oder, ich weiß nicht, ich las einem Mädchen vor, und daneben saß ihr Vater mit dem Gewehr im Arm, obwohl wir gar nicht die ganze Zeit in der Nähe der Grenze waren. Und als dann der traurige Teil der Geschichte kam, konnte man den Vater weinen sehen, und das Mädchen war fröhlich, und es war alles wirklich sehr, sehr seltsam.
Bei einer dieser Veranstaltungen, oben im Norden, saß ich wieder vor so einem zufälligen Publikum, aber diesmal größer, so viele Leute wie jetzt hier sitzen, und irgendwie waren es nur ältere Menschen. Ältere Überlebende.
In diesen Kibbuzim leben viele Menschen, die nicht mehr jung sind. Sie waren ein sehr gutes Publikum, ich freute mich, vor Zuschauern zu sprechen, und sie hörten zu und ich las ihnen Geschichten vor und erzählte Witze und alles lief gut. Und am Ende applaudierten sie und wandten sich zum Gehen. Ich weiß nicht, wie viele von Ihnen schon mal vor einem älteren Publikum aufgetreten ist, es ist jedenfalls so: Die Leute gehen sehr langsam. Weil sie eben kleine Gehstöcke haben oder Gehhilfen. Es ist also eher ein Prozess. Wenn die Veranstaltung zu Ende ist, dann ist das nicht so – paff! – sie verschwinden, und – Wow! – schon stehen sie betrunken in irgendeiner Hamburger Bar herum, nein, sie machen sich einfach nur auf den Weg nach draußen.
Und ich bin fertig mit meinem Auftritt und sammle meine Bücher zusammen und packe alles in meine Tasche. Und da sehe ich eine alte Dame mitten im Raum stehen, und sie starrt mich an, mit dem Blick einer Lehrerin, die den Schüler ohne Hausaufgaben erwischt hat. So richtig, richtig sauer. Richtig ärgerlich, während alle anderen schon gehen. Ich schaue sie an und frage: »Liebe Frau, ist alles in Ordnung?« Und sie antwortet: »Sie haben uns Ihre Geschichten vorgelesen und uns Ihre Witze erzählt, und das ist ja alles ganz wunderbar und witzig, aber das Wichtigste haben Sie vergessen.« Und ich frage: »Was ist denn das Wichtigste?« Und sie sagt: »Sie haben uns nicht gesagt, was wir jetzt tun sollen!«
Die Wirklichkeit hat keinen Erzählbogen
Von meinem Vater habe ich so einen Trick gelernt: Wenn dich jemand etwas fragt oder dir etwas sagt, und du weißt nicht gleich, was du tun sollst, dann ist es immer gut, das Gesagte zu wiederholen, um Zeit zu gewinnen. »Ah, was Sie jetzt tun sollen«, sage ich also. Und da ruft ein Mann an der Tür: »Varda, Varda, komm zurück, jetzt sagt er uns, was wir tun sollen!«
Und dann sieht man all diese Senioren umkehren mit ihren Gehstöcken, und alle kommen mit ihren Gehhilfen wieder herein, es ist wie ein Kreuzzug oder, ich weiß nicht, wie die Wallfahrt nach Mekka, oder eher, als ob da lauter Versehrte kommen, damit ich ihnen sage, was sie tun sollen. Und dann setzen sie sich alle ordentlich wieder hin, und ich bin zwar gestresst, aber sie sehen das nicht. Also erzähle ich ihnen von einer Begebenheit, die mir und meiner Mutter passiert ist, und ich denke mir ein falsches, keine Ahnung, irgendwie pragmatisches Ende der Geschichte aus. Und dann klatschen sie alle und gehen, und diesmal auch endgültig.
Aber diese Frage »Was sollen wir jetzt tun?«, das ist die Frage, die im Augenblick auf jeden Fall die israelische Gesellschaft beschäftigt, ich würde sagen, die ganze Region, vielleicht sogar die ganze Welt. Die Vorstellung, dass wir in einer Wirklichkeit leben, dass diese Wirklichkeit aber keinen Erzählbogen hat. Sie wissen schon, wenn Sie einen Film sehen, dann denken Sie: »Ah, ich hoffe, du kriegst den Job. Ich hoffe, die Frau verlässt ihn. Ich hoffe, er hört auf zu trinken.« Sie haben gewisse Erwartungen, und denen folgen Sie und sagen: das ist gut, das ist schlecht. Aber die Realität in Israel seit dem 7. Oktober ist eher so wie Ihr Instagram-Feed. Ungefähr so: »Oh, da ist ein süßes Kätzchen, das will ich streicheln. Oh, da explodieren Pager, wie haben sie das denn hingekriegt? Oh, sie haben Menschen getötet und entführt, das ist ja schrecklich.« Aber die ganzen ernsten oder sehr emotionalen Bilder oder Filmchen ergeben zusammen keine Geschichte. Und was noch schlimmer ist: Sie haben nicht das Gefühl, dazuzugehören.
Und so ist es auch. Sagen wir, ich scrolle durch Instagram und sehe einen Affen, der eine Katze streichelt, und ich sage: »Oooh, wie süß.« Und dann sehe ich jemanden in China ertrinken, und das ist schrecklich. Und dann sehe ich einen Rapper sagen: »Kill the police!« Und ich sage: »Ah, es gibt gesellschaftliche Konflikte.« Aber ich bin in keinem dieser Filme. Dennoch bilden sie meine Realität, wenn ich auf Instagram bin. Und genau so ist das Gefühl. Das Gefühl, dass man selbst nicht mitspielt. Dass man noch nicht mal Zuschauer und Fan ist. Man hat überhaupt keine Erwartungen. Wenn irgendwas in Ihrer Wirklichkeit passiert, dann versuchen Sie nicht mal einzuordnen, ob es gut oder schlecht für Sie ist.
Tatsächlich ist es so: Alles passiert, weil Israel zwei Kriege führt. Der eine Krieg ist öffentlich, gegen den Iran, gegen Hisbollah. Im anderen, wichtigeren und entscheidenden Krieg geht es darum, die israelische Gesellschaft als liberalen, demokratischen Raum zu erhalten. Und der Grundgedanke dabei ist, dass vieles, was in dem einen Krieg passiert, also in Gaza, wesentlich davon beeinflusst wird, dass Netanjahu sich und sein Regime an der Macht halten will. Und dass vieles, was innerhalb Israels geschieht, damit zu tun hat, dass wir in einen äußeren Konflikt verstrickt sind. Und ich habe das Gefühl, Netanjahu versucht, die beiden Stränge noch enger zu verknüpfen. Damit sie unmöglich entwirrt werden können. Ganz ähnlich wie die Hamas Zivilisten benutzt, das ist im Grunde der gleiche Versuch, also wenn man seine Truppen oder Kommandozentren unter einem Krankenhaus einrichtet, dann sind sie sicher. Und ich glaube, genau wie die Hamas diese Art von menschlichen Schutzschildern benutzt, so macht das auch Netanjahu mit den Geiseln, denn sein Gedanke ist, geschützt hinter diesen Menschen, die sich selbst opfern, kann ich weiter tun, was ich tue.
Keine schlechten und guten Zeiten
Ich muss Ihnen sagen, nach dem iranischen Raketenangriff hat mich ein italienischer Journalist vom Corriere della Sera angerufen. Er kennt mich, er hat mich schon öfter interviewt, und am Ende unseres Gesprächs hat er gesagt: »Etgar, ich möchte dir nur eins sagen: Alles, was du erzählst, klingt verrückt und ergibt eigentlich keinen Sinn.« Und ich habe bloß zurückgefragt: »Warum?« »Weil«, sagte er, »gerade 2000 Raketen und Marschflugkörper auf euch abgefeuert wurden und du in einem Haus ohne Schutzraum festgesessen hast, und trotzdem sagst du mir: »Ich habe keine Angst vor dem Iran. Alles gut. Mit dem Iran werden wir fertig. Wir müssen nur Netanjahu loswerden.«
Aber ich kenne die israelische Geschichte, die zwei Tempel, die zerstört wurden, die beiden Vertreibungen, die wurden nicht von einer äußeren Macht verursacht, sondern weil fundamentalistische Juden in Streit gerieten, der sich beinahe zu einem Bürgerkrieg entwickelte und im Grunde zwei Mal zum Ende des Staates geführt hat. Und beide Male hat es weniger als 100 Jahre gedauert. Seit ich ein Kind war, seit den Kriegen der 1970er, erinnere mich an ständige Kriege, und die sind zwar schrecklich, darin sterben Menschen, die man kennt, aber man erträgt sie. Doch wie soll man eine Situation ertragen, wo die eigene Gesellschaft immer unkenntlicher wird, wo die demokratischen Werte, die menschlichen Werte ständig in Frage gestellt werden?
Und damit zurück zu der Geschichte, die ich den »Was-sollen-wir-jetzt-tun«-Menschen erzählt habe. Denn seit Beginn des Krieges denke ich immer öfter darüber nach, was meine Eltern mich gelehrt haben. Am 7. Oktober 2023 dachte ich als Erstes daran, wie ich als Kind meinen Vater mit der Naivität eines Sechsjährigen fragte, ob der Holocaust die schlimmste Zeit in seinem Leben gewesen sei. Keine sehr taktvolle Frage.
Mein Vater, der alle Fragen, die ich ihm stellte, sehr ernst nahm, dachte einen Moment lang nach und sagte dann: »So wie ich das sehe, gibt es keine schlechten und guten Zeiten. Es gibt nur schwierige und einfache Zeiten.« Er wurde kurz still und sagte: »Ich muss sagen, dass ich mein ganzes Leben lang versucht habe, die schwierigen Zeiten zu vermeiden. Aber im Nachhinein betrachtet waren das die Zeiten, in denen ich am meisten über mich selbst gelernt habe.« Seit dem 7. Oktober habe ich solche Gedanken immer wieder, weil sie der Situation angemessen scheinen, weil sie einem etwas abverlangen, zum Handeln auffordern.
»Der Holocaust ist nicht mein Arbeitsplatz«
Jetzt zu der Geschichte, die ich den älteren Menschen im Kibbuz erzählte. Als ich acht Jahre alt war, ging meine Mutter mit mir zur Kinderärztin. Ich erinnere mich noch an ihren Namen: Dr. Bokokowski, den Namen werde ich nie vergessen. Im Wartezimmer standen nur zwei Stühle, und darauf saßen eine Frau, etwa so alt wie meine Mutter, und ein Kind, ungefähr zwei Jahre älter als ich. Ich komme aus einer kleinen Stadt, naja, nicht so klein, namens Ramat Gan, wo die meisten Menschen irakischer Abstammung sind. Wenn man in dieser Stadt Holocaust-Überlebender war, wurde man automatisch eine Art Berühmtheit, denn es gab dort nicht viele europäische Juden oder Holocaust-Überlebende.
Die Frau, die wir nicht kannten, erkannte meine Mutter als Holocaust-Überlebende, stieß ihren Sohn mit dem Ellbogen an und sagte: »Steh auf, steh auf! Biete ihr deinen Platz an, sie ist eine Holocaust-Überlebende!« Der Junge sagte: »Bitte, Sie können meinen Platz haben.« Meine Mutter antwortete: »Wow, du bist so ein höfliches, nettes Kind. Kannst du mir bitte erklären, warum du mir deinen Platz überlässt?«
Denn sie war um die vierzig, noch nicht alt. Und er sagte: »Weil Sie eine Überlebende des Holocaust sind.« Und meine Mutter fragte: »Und was glaubst du, was das bedeutet, dass ich eine Holocaust-Überlebende bin?« Der Junge sagte: »Es bedeutet, dass Sie gelitten haben und gefoltert wurden und Menschen verloren haben, die Ihnen nahestanden, und dass Sie ständig gedemütigt wurden. Also ist das Mindeste, was ich tun kann, Ihnen meinen Platz anzubieten.« Darauf sagte meine Mutter: »Darf ich dir eine andere Erklärung dafür geben, was es bedeutet, eine Holocaust-Überlebende zu sein?« »Klar«, sagte der Junge. »Ich glaube«, sagte meine Mutter, »es bedeutet, wenn du und ich und deine Mutter hier im Wartezimmer tagelang ohne Essen und Trinken stehen müssten, dann würdet ihr zwei wahrscheinlich lange vor mir zusammenbrechen. Ich schlage also vor, dass du sitzen bleibst.«
Ich glaube, in diesem Moment, als ich meine Mutter das sagen hörte, wurde ich – unbewusst – zum Schriftsteller. Wegen dieser Vorstellung von einem Menschen, der in eine Schublade gesteckt wurde, eine öffentliche Rolle spielen sollte, einer Frau, die auf etwas reduziert wurde, was sie für die ganze Welt, na, nicht die ganze Welt, aber das ganze Land zu sein hatte. Ich erinnere mich, dass meine Mutter in unserer Stadt jedes Jahr gebeten wurde, an einem Gedenkgottesdienst für den Holocaust teilzunehmen. Sie antwortete stets das Gleiche: »Entschuldigung, ich glaube, da liegt ein Irrtum vor. Ich habe den Holocaust miterlebt. Der Holocaust ist nicht mein Arbeitsplatz.«
Diese Vorstellung vom Holocaust als Mosaik, in dem meine Mutter ein Steinchen sein sollte, hat sie nie akzeptiert. Nichts in ihrem Leben tat sie, nur weil die Gesellschaft es von ihr erwartete. Wir hörten bei uns zu Hause Wagner, was damals eine große Sache war, und wenn die Nachbarn zu meiner Mutter sagten: »Du weißt, dass die Nazis Wagner geliebt haben?«, antwortete sie: »Ja. Die Nazis mochten auch Apfelstrudel. Soll ich deshalb keinen Apfelstrudel essen?« Sie sagten darauf: »Ja, aber du weißt doch, Wagner war selbst Antisemit.« Und meine Mutter sagte: »Oh ja, ich weiß. Und wäre er in diesem Wohnzimmer, würde ich ihn vergiften. Aber er war ein großartiger Komponist, findet ihr nicht? Diese Stelle hier mag ich besonders …«
Diese Art, sich seine eigene Geschichte zu eigen zu machen, an ihr festzuhalten und sich nicht von anderen ihre Version dieser Geschichte aufdrängen zu lassen, ist für mich heute sehr wichtig. Denn wir leben in einer Welt, in der die meisten unserer Aktivitäten aktionistisch sind, und nicht einmal von uns selbst initiiert. Wir setzen alle die ukrainische Flagge auf die Facebook-Seite, aber das ist ja nicht unsere Idee. Und ehrlich gesagt weiß ich auch nicht, wie sehr das dem ukrainischen Volk hilft. Viele Ukrainer würden wohl die Facebook-Flagge gegen eine Decke eintauschen. Wahrscheinlich würden sie es auch nicht übelnehmen, wenn man nach zwei Monaten die Flagge durch ein Selfie beim Grillen ersetzt, während sie immer noch bombardiert werden. Es ist okay, aber das Problem ist, dass Aktivismus an sich etwas völlig Narzisstisches und oft Passives geworden ist. Es geht nur noch darum zu folgen, zu folgen, zu folgen.
»Alle von ihnen, jetzt!«
Eins hat meine Mutter mir immer wieder gesagt: »Nimm in guten Zeiten alles an, was die Menschen dir anbieten.« Sie nannte das »per Anhalter fahren – jedes Auto, in das du einsteigst, bringt dich irgendwo hin … nach Woodstock, du triffst Mädchen, rauchst Gras. Alles ist okay.« Sie sagte aber auch: »In schlechten Zeiten kann man nicht per Anhalter fahren. Denn immer, wenn im Ghetto jemand gerufen hat, ›Lauf da hin! Lauft dorthin!‹, dann haben sie genau dort, wo man hinrannte, Menschen umgebracht. In solchen schlechten Zeiten«, sagte sie, »muss man sich in die Erde graben und Wurzeln schlagen. Man muss sich mit dieser Realität auseinandersetzen, und zwar nicht wie bei einem Schulausflug, bei dem man immer hinterhertrabt, bis der Lehrer ruft, dass man zu langsam ist. Man muss sich fragen: ›Was stört mich? Was will ich erreichen? Was ist die konkrete Maßnahme, die ich ergreifen möchte?‹«
Und in dieser Hinsicht habe ich das Gefühl, dass vieles von dem, was ich tue, diesem Test nicht standhält. Ich erkläre meiner Frau, wenn ich jetzt an den Demonstrationen für die israelischen Geiseln der Hamas teilnehme, gemeinsam mit ihren Angehörigen, dann sage ich mir, dass ich das für die Entführten selbst tue. Weil diejenigen, die freigelassen wurden, erzählt haben, dass sie manchmal im Fernsehen oder auf einem Foto sahen, wie Menschen für sie auf die Straße gingen, und dass ihnen das Kraft gab. Ich sage mir also, dass ich es für sie tue.
Aber meine Frau habe ich gefragt: Wenn ich da die ganze Zeit auf dem Platz stehe und auf Hebräisch »Et kulam achshav« (את כולם עכשיו) rufe, »Alle von ihnen, jetzt!«, wem rufe ich das zu? Schreie ich das Sinwar zu, der damals noch nicht tot war, und hoffe, dass er mich hört und sagt: »Oh nein, hör mal, Nasser, wir müssen sie freilassen! Los, los, los, schnell, wir müssen sie jetzt freilassen, Etgar hat es gesagt«? Oder vielleicht sagt auch Netanjahu: »Oh mein Gott, Sara, ich habe noch nie richtig darüber nachgedacht. Wir sollten sie jetzt befreien!« Oder vielleicht rufe ich auch zu Biden, weil der sie ja auch nicht befreien will. Oder vielleicht … Zu wem sage ich das, verdammt? Weißt du was, habe ich zu meiner Frau gesagt, das ist jetzt sowas wie das Amen der Linksliberalen geworden. In unserer Synagoge, in einer Welt, wo man mit Waterboarding und Schlägen bedroht wird, da gibt es kein Amen. Aber jetzt haben wir unser Amen gefunden. Wir sagen »jetzt!« und glauben, dass »jetzt« irgendeine Bedeutung hat. Was ich sagen will: Ich glaube, der moralische und verantwortungsbewusste Weg, den jeder einschlagen sollte, der diese Wirklichkeit verändern möchte, ist die Fähigkeit, alles nicht so intensiv zu tun wie man kann, nicht so heftig wie möglich, nicht das tun, was gerade im Trend liegt, was besonders gut und richtig ist. Ja, entgegnen Sie etwas, geben Sie etwas, teilen Sie, aber versuchen Sie all diese Dinge ab ovo zu denken, vom Ursprung her, vom Ei, tun Sie das, was Sie tun können, wovon Sie das Gefühl haben, es könnte helfen.
Jeder verfolgt sein Projekt
Und jetzt werde ich mich kurzfassen, denn ich will ja auch das Konzert hören, aber ich will diese Rede mit etwas beenden, was mir zu Beginn des Krieges widerfahren ist.
Ich glaube, es war ein paar Wochen nach Kriegsbeginn. Ich habe, wie schon gesagt, einen Instagram-Account, und dort sehe ich mir gern an, wie Katzen von Affen gestreichelt werden, und da bekam ich auf einmal eine Nachricht von einem Menschen, von einer Frau, die ich nicht kannte, ich wusste nicht mal, von wo sie sich meldete, und im Grunde schrieb sie mir etwas sehr Wütendes, nämlich dass sie meine Bücher früher gelesen habe, aber jetzt nicht mehr lesen wolle, weil sie entdeckt habe, dass ich ein blutrünstiger, mörderischer, rassistischer Psychopath sei. Ich sagte zu meiner Frau: »Ich muss dieser Person schreiben«, und sie antwortete: »Du verstehst das nicht, du bist ein alter Sack, das sind Social Media, da schreiben die Leute irgendwelchen Kram, aber das ignoriert man, dann geht es wieder weg. Du wirst nicht zur Verantwortung gezogen. Das ist wirklich ganz okay so.« Aber ich entgegnete: »Nein, nein, nein, aber diese Frau…«
Ich schrieb ihr also zurück: »Hören Sie, ich weiß, Sie haben gesagt, Sie wollen meine Geschichten nicht mehr lesen, aber sollten Sie es sich jemals anders überlegen und sie wieder lesen wollen, dann tun Sie es bitte nicht! Ich habe nämlich mit meinen Geschichten geredet, und die wollen Sie nicht als Leserin. Sie sind nämlich tatsächlich sehr zweideutig und obskur, und Sie sind ein stark vereinfachender, radikaler, aggressiver und gewalttätiger Mensch, darum bitte ich Sie im Namen meiner Geschichten und auch meinetwegen, bitte lesen Sie die Geschichten nicht wieder.« Sie antwortete mir erstaunt: »Ich, gewalttätig? Ich aggressiv? Wieso?«
Und so kamen wir ins Gespräch und wurden vertrauter. Sie ist offenbar Mexikanerin und wusste bis zu diesem Konflikt nichts über Palästina, sie war unpolitisch. Aber dann sah sie auf CNN, wie Kinder in Gaza starben, und fing an, diese Vorgänge in den sozialen Medien zu verfolgen und alles Mögliche zu sehen.
Sie weinte dauernd und war deprimiert und ihr Mann war schon sehr genervt. Sie fühlte sich der Wirklichkeit gegenüber total hilflos, sie sieht da diese Kinder sterben, und es ist ja nicht mehr wie in alten Zeiten, wo uns ein Seefahrer berichtete, was auf fernen Weltmeeren passierte. Es ist in ihrem Feed. Sie sieht immer mehr, da sind Familien, sie liest darüber, und sie ist absolut machtlos. Sie schrieb mir: »Ich habe gedacht, was kann ich tun? Was kann ich tun? Ich kenne weder Palästinenser noch Israelis. Aber dann fiel mir ein, dass ich deine Bücher gelesen habe, und hinten stand drauf, dass du aus Israel stammst. Und da sagte ich mir: Jetzt weiß ich, was ich tun kann. Jetzt kann ich etwas für die Palästinenser tun.«
Wir unterhielten uns weiter, und am Ende sagte ich zu ihr: »Hör mal, ich bin älter als du. Es ist sehr, sehr schwierig, Dinge zu verändern und zu helfen, weißt du. Und noch schwieriger, wenn du dich auf einem anderen Kontinent befindest und niemanden in der Region kennst, der du helfen willst. Du hast dir eine Aufgabe gestellt, die zu groß für dich ist. Aber ich bin schon oft in Mexiko gewesen«, schrieb ich, »und wenn ich mich richtig erinnere, habe ich dort immer hungrige Menschen gesehen. Also machen wir einen Deal: Jedes Mal, wenn du dich traurig und machtlos fühlst, gibst du einem hungrigen Menschen auf der Straße etwas zu essen. Und im Gegenzug verspreche ich dir, dass ich alles tun werde, um diesen Konflikt zu beenden. Ich wohne näher dran als du. Und ich kenne ein paar Leute. Ich kann dir nicht versprechen, dass ich es schaffe. Aber jeder von uns verfolgt sein Projekt, und in drei Monaten schreiben wir uns wieder.«
Ich bin eben ein gerissener Jude, was soll ich machen? Damals redete ich mir ein, niemals wird dieser Krieg in drei Monaten noch im Gang sein. Und nach drei Monaten denke ich mir, ich sollte dieser Frau schreiben, aber ich kann nicht, was soll ich ihr denn schreiben? Was kann ich ihr noch mehr schreiben? Noch mehr Versagen? Mehr bittere Erkenntnisse? Sie war so freundlich, mir auch nicht wieder zu schreiben.
Keine Veränderung ohne Handlung
Aber um die Sache zu Ende zu bringen: Ich kann nur raten, das zu tun, was meine Mutter mir gesagt hat. Sie hat immer recht. Sie hatte immer recht. Wir sehen so viel Horror und so viele schreckliche Dinge, dass der Körper unbedingt etwas tun will. Aber dann müssen Sie selbst darüber nachdenken, was das sein könnte.
Gehen Sie nicht einfach ins Internet lassen es sich dort vorschreiben. Durch Folgen ist noch nie eine Veränderung erreicht worden. Keine Veränderung war je das Ergebnis von Passivität. Keine Veränderung kam jemals dadurch zustande, dass Menschen praktisch nie vom Tisch aufgestanden sind und irgendwelche Dinge geschrieben haben, seien sie wahr oder unwahr.
Also, wir brauchen Sie, Sie müssen tun, was Sie können, aber Sie müssen nur das tun, wovon Sie auch glauben, dass Sie es können. Wir brauchen Menschen nicht als Brennholz, das ein Feuer am Laufen hält. Sondern wir brauchen sie als reflektierte, moralische Denker, die zwischen allzu simplen und komplexeren Erklärungen unterscheiden können. Jede Person, die Uneindeutigkeit in den Dialog einbringen kann, jede Person, die bereit ist zu zögern und nachzudenken, bevor sie handelt, wird sehr dringend gebraucht. Denn im Moment wird dieser Dialog leider vor allem von Leuten kontrolliert, die völlig von ihrer Sache überzeugt sind.
So, und am Ende wollte ich jetzt noch etwas vorlesen, wenn das okay ist, wenn mich die Veranstalter nicht umbringen? Ja? Okay. Also. Ich habe von meiner Mutter erzählt, die ihre Geschichte als Holocaust-Überlebende erzählt, und das erste Mal nach … im Grunde bloß eine Woche nach dem 7. Oktober, da fuhren wir zur ersten Gemeinschaft von Überlebenden, und dort standen alle noch sehr unter Schock. Ich lernte da ein junges Mädchen kennen…
Also, im Kibbuz ist es so, ich weiß nicht, wie gut Sie Kibbuzim kennen, aber im Kibbuz passiert ständig Folgendes: Nehmen wir an, ich stehe mit Daniel zusammen, und Daniel trägt eine Perücke, dann würde ich sagen: »Ah, Daniel hat eine Glatze, komm, Daniel, mach mal diesen Quatsch mit deiner Perücke!« So macht man das im Kibbuz, man redet über Leute, über ganz persönliche, intime Dinge, die nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun haben. Das ist zugleich das Schreckliche und das Liebenswerte am Kibbuz. Als ich also dort ankomme, ruft mich eine Mutter zu sich: »Hey, hey, kommen Sie mal her.«
Und sie stellt mich ihrer Tochter vor. Die Tochter ist vielleicht 14, 15 Jahre alt.Und die Mutter sagt: »Ich möchte Ihnen eine lustige Geschichte vom 7. Oktober erzählen, die passiert ist, als wir 32 Stunden in einem Raum eingesperrt waren.« Sie zeigt dabei auf das Mädchen, und als sie anfängt zu reden, sagt die Tochter: »Bitte, entschuldige, aber ich möchte nicht, dass du die Geschichte erzählst, tut mir leid, aber das ist mir peinlich.« Und die Mutter sagt: »Wieso? Die ist so witzig! Ich erzähle sie.« Die Tochter: »Nein, nein, bitte nicht!« »Ich erzähle sie, das ist schon okay.« Und dann sagt sie mehr oder weniger: »Als die Hamas-Kämpfer in unser Haus eindrangen und wir hörten, wie sie in unserem Heim schossen und Arabisch sprachen, da hat sie meine Hand gehalten und mir ins Ohr geflüstert: ›Es gibt so viele Bücher, die ich noch nicht gelesen habe. Ich will nicht dumm sterben.‹ Ist das nicht lustig?«
Eine ausgedruckte WhatsApp-Nachricht
Später redete ich dann mit diesem Mädchen, und das war wirklich magisch, ich hörte ihr auch zu, ihr Vater wurde im Kibbuz ermordet, während sie in diesem Raum saß. Und als man uns wieder zu unserem Auto brachte, war da so eine freiwillige Helferin, es war ganz offensichtlich, dass sie nicht aus dem Kibbuz war, sie hielt ein Baby auf dem Arm. Nun sagt meine Frau immer zu mir, Ivan, du kannst das vielleicht bezeugen, das sie immer sagt: »Du bist immer so getrieben, und wenn Menschen dir helfen, dann fragst du sie nie: ›Wie heißt du? Wo kommst du her? Wer bist du?‹ Du sagst einfach bloß ›Besorg mir zwei Stühle! Funktioniert das Mikro?‹ So was. Du musst mal entspannter werden. Du musst diese Menschen auch mal zur Kenntnis nehmen.« Okay, sage ich. Als wir dann also zum Auto gingen, dachte ich mir, es ist jetzt zu spät, diese Frau nach ihrem Namen zu fragen, sie ist schon drei Stunden mit uns zusammen, aber sie hatte eben das Baby auf dem Arm, das die ganze Zeit schlief.
Also sagte ich zu ihr: »Dieses Baby ist ja wirklich ein Wunder, unser Kind würde die ganze Zeit schreien. Wie heißt die Kleine denn?« Und sie guckt auf ihren Arm, als wüsste sie gar nicht, dass sie da einen Säugling trägt, und dann schaut sie mich wieder an und sagt: »Ich weiß es nicht.« »Was soll das heißen, Sie wissen es nicht?«, frage ich. »Wissen Sie was«, sagt sie, »ich bin als Freiwillige hergekommen, um zu helfen, und da war so eine Frau, die stillte ihr Baby, und dann hat man ihr gesagt, dass ihr Mann ermordet wurde, und da ist sie in Ohnmacht gefallen, und jemand hat das Baby aufgefangen, als sie umfiel, und dann hat man mir das Baby gegeben, und dann sind Sie gekommen, und ich habe ganz vergessen, dass ich es zurückbringen muss.«
Und ich weiß noch, als ich dann zum Auto ging, da schickte mir das Mädchen, das nicht dumm sterben wollte, eine Textnachricht, und ich wollte ihr antworten und alles schreiben, was ich im Kopf hatte, aber dann fiel mir meine Mutter ein, wie sie ihre Geschichte erzählt hatte, und ich sagte mir: Du musst schreiben, was du jetzt fühlst. Ich las ihre Nachricht, und dann schrieb ich das hier und schickte es dem Mädchen, und sie hat mir später erzählt, dass sie es bei der Beerdigung ihres Vaters vorgelesen hat. Dieser kurze Text ist im Grunde eine WhatsApp-Nachricht, okay, aber ich habe sie ausgedruckt, dann wirkt es ein bisschen beeindruckender.
Der Text heißt »Lebenszeichen«:
Jetzt schließ die Augen und versuch, nicht mehr wütend zu sein. Versuch, nicht mehr gegen all jene zu rasen, die deinen gerechten Zorn verdienen. Schließ die Augen und erlaube dir, nur für einen Moment, einfach nur den Schmerz zu spüren. Zu zögern. Verwirrt zu sein. Trauer zu fühlen. Reue. Du hast noch dein eigenes Leben, das du mit Verfolgung, Rache, Abrechnung verbringen kannst. Aber jetzt schließ nur die Augen und schau nach innen, wie ein Satellit, der über einem Katastrophengebiet schwebt und nach Lebenszeichen sucht. Dir ist sehr viel genommen worden – aber du bist immer noch ein Mensch. Verwundet, blutig, wütend, leidend, verängstigt, im Kummer versinkend, aber immer noch: menschlich. Hol tief Luft und versuch dich, an dieses Gefühl zu erinnern. Denn du weißt, in einer Minute, wenn du die Augen wieder öffnest, wird es weg sein.
Vielen Dank.
Geringfügig redigiertes Transkript der frei vorgetragenen Festrede, die Etgar Keret am 2. November 2024 auf dem Kongress »So kommen wir weiter« des PEN Berlin in der Fabrik Altona in Hamburg gehalten hat. Aus dem Englischen von Ingo Herzke.
* Etgar Keret, 1967 in Ramat Gan geboren, Schriftsteller, Drehbuchautor und Filmregisseur. Seine Bücher wurden in 37 Sprachen übersetzt. Mit dem palästinensischen Autor Samir El Youssef veröffentlichte er 2006 den Band »Alles Gaza – geteilte Geschichten«. 2007 wurden er und seine Frau für »Jellyfish – Vom Meer getragen« mit dem Caméra d’Or ausgezeichnet, 2019 erhielt er den National Jewish Book Award. Auf Deutsch erschien zuletzt der Novellenband »Tu’s nicht« (Aufbau, 2020)
[Einführung ins Werk von Etgar Keret von Daniel-Dylan Böhmer]
[Überblick über alle Beiträge des Kongresses]