Vorstellung Etgar Keret von Daniel-Dylan Böhmer

Vorstellung des Festredners Etgart Keret auf dem Kongress des PEN Berlin am 2. November 2024 in Hamburg

Geschichten, die wir gerade jetzt brauchen

Von Daniel-Dylan Böhmer

[Diesen Beitrag als Audio hören]

David Werdermann
Daniel Böhmer bei der Vorstellung von Etgar KeretFoto: Jayrôme Robinet

Als ich Etgar Keret kennenlernte, Ende der neunziger Jahre, da war er Anfang 30 und galt als Gefahr für die israelische Literatur. Weil die schnelle Alltagssprache seiner Kurzgeschichten zu poppig und seine jungen urbanen Figuren zu rockig waren für den Geschmack der älteren israelischen Schriftsteller. Er schien einen Angriff darzustellen auf deren Projekt, das auf Basis der europäisch-jüdischen Vorkriegstradition eine neue, idealistische Literatur des Zionismus schaffen wollte. Einer von Ihnen nannte Keret gar einen Virus, der die israelische Literatur befallen habe.

Keret verwirrte die älteren Kollegen aber auch, weil er stets auf eine seltsam versöhnliche Art ironisch schrieb, ausgerechnet in einem Israel, in dem die Hoffnung auf Frieden gerade wieder verloren zu gehen schien. Es waren die Jahre nach der Ermordung Jizchaks Rabin durch einen jüdischen Rechtsradikalen, der ersten Selbstmordattentate der Hamas, die den gerade erst begonnen Friedensprozess von Oslo infragestellten – für immer, wie wir heute wissen.

Aber Keret klagte nicht.

Er zog aus der Gleichzeitigkeit von Hoffnung und Gewalt und ständigem Stress, die ihn umgab, eine sehr eigentümliche Poesie, eine Art magischen Realismus, der sich selbst nicht so wichtig nahm. Sein erster Roman »Pizzeria Kamikaze« (erschienen im Jahr 2000) handelt von einem Jenseits ausschließlich für Selbstmörder und in deren Billard-Cafés ist es völlig normal, wenn neben jüdischen Jugendlichen, die sich wegen ihres Liebeskummers das Leben genommen haben, auch mal palästinensische Selbstmordattentäter am Tresen stehen.

Etgar Keret
Etgar Keret bei seiner Festrede. Foto: Jayrôme Robinet

Das war zu viel Leichtigkeit für viele Ältere in einem Land, das immer auch auf Pathos angewiesen war, um zu überleben. Dabei kennt Keret die Katastrophen, die aufzuheben Israel angetreten ist. Schließlich ist er selbst Kind von Holocaust-Überlebenden. Aber er ist aufgewachsen in diesem Israel mit seinem intensiven, grellen Alltag, seinen konkurrierenden Utopien, dem alltäglichen Sterben, den ständigen Grausamkeiten und den großen Bedrohungen. Dieses Israel braucht diese Sprache, braucht diese Geschichten.

Darum ist es kein Wunder, dass Keret heute einer der meistgelesenen und am häufigsten übersetzten israelischen Autoren ist. Er hat praktisch alle wichtigen Literaturpreise Israels gewonnen, den Literaturpreis des Ministerpräsidenten – nicht des jetzigen Ministerpräsidenten –, oder auch den Sapir-Preis. Dazu kommen diverse internationale Preise, er ist unter anderem ein Ordre des Arts et des Lettres des französischen Staatspräsidenten.

Aber viel wichtiger ist, dass wir diese Geschichten, diese Gleichzeitigkeit von Schönem und Schnödem und Schrecklichem gerade jetzt brauchen. Weil wir auch den aktuellen Konflikt nicht verstehen können, wenn wir diese Gleichzeitigkeit in und um Israel nicht begreifen wollen. Darum braucht es gerade jetzt das Wort von Etgar Keret.

Aber viel wichtiger ist, dass wir diese Geschichten, diese Gleichzeitigkeit von Schönem und Schnödem und Schrecklichem gerade jetzt brauchen. Weil wir auch den aktuellen Konflikt nicht verstehen können, wenn wir diese Gleichzeitigkeit in und um Israel nicht begreifen wollen. Darum braucht es gerade jetzt das Wort von Etgar Keret. 

Etgar Keret, wakasha tztaref alinu!

Manuskript der Einführung ins Werk von Etgar Keret, die Daniel-Dylan Böhmer  am 2. November 2024 auf dem Kongress »So kommen wir weiter« des PEN Berlin in der Fabrik Altona in Hamburg vorgetragen hat.

* Daniel-Dylan Böhmner, geboren 1975 in Frankfurt am Main, Journalist. Nach Stationen bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und der deutschen Vanity Fair seit 2009 Autor und Redakteur im Auslandsressort der Welt. 2017 als eine der Journalisten des Jahres ausgezeichnet. Buch: »Der Major, der den Krieg überlistete« (Suhrkamp, 2013).

[Die Festrede von Etgar Keret auf Deutsch oder im Englischen Original lesen oder als Audio hören]
[Überblick über alle Beiträge des Kongresses]

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner