Interview mit PEN-Berlin-Sprecher Deniz Yücel in der Süddeutschen Zeitung, 13. Dezember 2024
»Vielleicht musste es auch mal knallen«
Zu israelkritisch den einen, zu weichgespült den anderen: Der PEN Berlin zerstreitet sich über eine Nahost-Resolution. Ein Gespräch mit dem aufgewühlten Co-Vereinssprecher Deniz Yücel über einen Eklat, der die ganze Republik interessieren sollte.
Interview von Jens-Christian Rabe
Am vergangenen Sonntag kam es beim Schriftstellerverband PEN Berlin bei der Abstimmung über eine Resolution des Vereins zum Schutz von Autorinnen und Autoren im Nahostkonflikt zum Eklat. Grob gesagt, wollten die einen den Text weniger israelkritisch, den anderen war er am Ende viel zu weichgespült. Erstere setzten sich durch, 25 Verlierer um den Berliner Historiker Per Leo traten aus dem Verein aus, darunter namhafte deutsche Intellektuelle, vor allem aber auch sieben arabische Mitglieder, unter anderem der Dramatiker Mohammad Al Attar, die Journalistin Dima al-Bitar Kalaji und der Schriftsteller Yassin al-Haj Saleh. Und in einem offenen Brief in der Frankfurter Rundschau kritisierten sie am Dienstag zum Abschied noch mal besonders scharf den PEN-Berlin-Co-Sprecher und Welt-Journalisten Deniz Yücel. Am Telefon ist Yücel ein noch immer aufgewühlter, aber auch nachdenklicher Gesprächspartner.
SZ: Herr Yücel, wie würden Sie einer interessierten, aber betriebsfernen Freundin erklären, was da gerade bei Ihnen beim PEN Berlin passiert ist?
Deniz Yücel: Das ist von der Laune des Tages abhängig. Wenn ich gut gelaunt wäre, würde ich sagen: Das ist ein Verein für Meinungsfreiheit, in dem es viele Meinungen gibt, und wenn die aufeinanderprallen, dann kann es halt mal knallen.
Und wenn Sie weniger gut gelaunt wären?
Dann würde ich sagen, dass es Streit gab, weil einige den Zweck dieses Vereins missverstanden haben. Wir sind alle Autorinnen und Autoren, niemand von uns braucht den PEN Berlin, wenn er glaubt, zu einem Thema seine zwei Cent beitragen zu können. Resolutionen sind nicht der zentrale Teil unserer Arbeit.
Wofür ist der PEN Berlin denn Ihrer Ansicht nach wirklich da?
Für die Dinge, die niemand von uns alleine machen kann. So etwas wie die Gesprächsreihe in Ostdeutschland oder den alternativen Italien-Schwerpunkt auf der Frankfurter Buchmesse – und vor allem für die ganz praktische Menschenrechtsarbeit, die Unterstützung für verfolgte Kolleginnen und Kollegen. Meral Şimşek zum Beispiel säße heute in der Türkei im Knast, verurteilt zu acht Jahren. Stattdessen lebt sie mit ihren Kindern in Berlin und hatte gerade eine Lesung in Spanien.
Können Sie an dem Ärger der 25 Mitglieder, die jetzt unter Protest ausgetreten sind, auch etwas verstehen?
Ich kann verstehen, dass sie sich darüber ärgern, dass sie die Abstimmung nicht gewonnen haben. Wer sich allerdings in einen demokratischen Prozess der Abstimmung begibt, muss damit leben können, nicht oder nicht ganz zu bekommen, was er wollte. Das sehen übrigens die meisten der Mitglieder, die für eine der beiden unterlegenen Resolutionen gestimmt haben, genau so. Sie sagen »Wenigstens so viel« oder »Wenigstens nicht schlimmer«, üben Kritik, aber treten nicht aus.
In der Stichwahl war es sehr knapp, 83:82.
Ja, und von unseren zum Zeitpunkt des Treffens 730 Mitgliedern waren knapp über 200 zugeschaltet, das ist in einem Verein, in dem sehr viele Mitglieder jegliche Vereinsmeierei ablehnen, sehr viel. Thea Dorn und ich als Sprecher mitsamt dem übrigen Leitungsteam hätten selbstverständlich jedes andere Ergebnis respektiert, bei dem dann möglicherweise andere Mitglieder ausgetreten wären.
Aber Sie sind schon froh, dass es nicht so kam?
Ich habe in der Mitgliederversammlung für diesen Kompromiss geworben, weil er mir inhaltlich am nächsten war, weil ich den Kompromissversuch selbst wertvoll fand – und mit Blick auf die Gesamtinteressen des PEN Berlin.
Welche Interessen meinen Sie?
Der PEN Berlin existiert erst seit Juni 2022 und arbeitet weitgehend ehrenamtlich. Und gerade versuchen wir, das Erreichte aus der prekären Start-up-Phase herauszuführen und uns stärker zu institutionalisieren. Nicht nur, um das Bestehen des Vereins zu sichern, sondern auch, um die konkrete Menschenrechtsarbeit fortsetzen zu können. Wäre die Resolution, die eine Gruppe um den Historiker und Publizisten Per Leo eingebracht hatte, angenommen worden, hätte das diese Bemühungen eher nicht erleichtert.
Die Ausgetretenen werfen Ihnen genau dieses Argument als Erpressung vor. Wenn der Verein nur noch der »Logik der Selbsterhaltung« folge, habe er seine Daseinsberechtigung verloren. Wieso sind Sie sich so sicher, dass der Leo-Entwurf dem Verein geschadet hätte?
Sie kennen die letzte Bundestagsresolution zum »Schutz jüdischen Lebens«. Oder den BDS-Beschluss des Bundestags von 2019. Ich will das jetzt nicht inhaltlich bewerten, aber in Deutschland gehört manchmal nicht viel dazu, das Etikett »israelkritisch« oder gar »israelfeindlich« verpasst zu bekommen. Das ist ein emotional aufgeladenes Thema in unserem Land, dafür gibt es historische Gründe, jeder weiß das. Und doch hätte ich in den Gesprächen mit potenziellen Sponsoren auch jede andere Resolution als demokratische Entscheidung verteidigt. Das hätte übrigens ich machen müssen und nicht Herr Leo.
Ihren Ärger über Per Leo spürt man deutlich, mit ihm gemeinsam sind aber ja noch 24 andere ausgetreten, darunter allein sieben mit arabischem Hintergrund. Bedauern Sie das?
Sehr ernst nehme ich vor allem den Austritt einiger arabischer und mancher linker, jüdischer Kolleginnen und Kollegen. Da frage ich mich, was wir in der Vergangenheit hätten tun können, um das zu vermeiden. Da ist zum Beispiel Yassin al-Haj Saleh dabei, den ich persönlich gut kenne, er saß 16 Jahre in einem Folterknast Assads. Mit ihm ist der Dialog abgerissen in den vergangenen Monaten, und das lag nicht an ihm.
Sondern an Ihnen?
Ja, er schrieb uns einen Brief, in dem er die mangelnde Präsenz der arabischen Perspektive im PEN Berlin kritisierte. Und ich habe nicht das Gespräch mit ihm gesucht. Nicht aus mangelnder Wertschätzung, sondern weil ich diesen Konflikt gescheut habe. Mein Fehler.
In gewisser Weise hat Sie dieser Konflikt am Sonntag aber wieder eingeholt.
Ja, wobei die Ausgangssituation außergewöhnlich war. Mitgliederversammlung klingt immer so piefig. Aber da sind am Wochenende ja nicht nur viele namhafte Vertreter des deutschen Kultur- und Medienbetriebs zusammengekommen, sondern eben auch arabische oder linke, israelische Kolleginnen – wobei die Konfliktlinien nicht immer entlang ethnisch-kultureller Linien verlaufen, aber immer entlang politischer. Da saßen also echte Opponenten in Sachen Israel und Gaza in einem Zoom, als Mitglieder desselben Vereins, die sich auf eine gemeinsame Grundlage – die Charta des Internationalen PEN – geeinigt haben. Eine Runde, in der zwar seit dem 7. Oktober und dem Gaza-Krieg sehr viel Enttäuschung, Verhärtung und ein großes Gefühl von Abgewiesensein entstanden war. Aber nun wollten sie miteinander diskutieren.
Wieso lief es trotzdem so schief?
Inzwischen glaube ich, dass dieser Resolutionsentwurf ein später Gesprächsversuch war – in einer Gestalt, dem sich der Gesamtverein nicht entziehen konnte. Doch da dieser Gesprächsversuch als Resolution kam, lief es auf eine Konfrontation hinaus. Dennoch haben wir als Leitungsgremium versucht, einen Knall zu vermeiden. Nachdem die Mitgliederversammlung Anfang November in Hamburg beschlossen hatte, über einen – vereinfacht gesagt – »propalästinensischen« und einen ebenso vereinfacht gesagt »proisraelischen« Resolutionsentwurf nicht zu entscheiden, haben wir zwei Mitglieder – beide Journalisten, die zum Nahost-Thema arbeiten, beide mit familiären Wurzeln in der Region – gebeten, eine Vermittlung zu versuchen. Hinzu kamen als Vertreter beider Seiten der israelische Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfus und der Publizist Jörg Friedrich.
Wie ging diese Runde aus?
Die Verhandlungen waren wohl nicht einfach. Aber am Ende konnte man sich auf ein Papier einigen. Friedrich und Dotan-Dreyfus, der zu der Gruppe gehört, als deren Wortführer später Per Leo auftrat, gingen damit zu ihren Leuten. Doch die waren nicht einverstanden, sodass beide ihre Unterschrift zurückzogen. Das Kompromisspapier wurde dennoch eingebracht – und am Ende angenommen.
Wenn dem zu 80 oder 90 Prozent zugestimmt worden wäre, wäre Ihr Vereinsfrieden gerettet gewesen.
Ja. Aber Hand aufs Herz: Ein deutscher Verein, der sich mit großer Mehrheit auf eine Resolution zum Schutz von Autorinnen und Autoren im Nahostkonflikt einigt, wäre Ihnen das einen Bericht wert gewesen?
So gesehen ist es doch eigentlich alles optimal gelaufen für Sie.
Leider nicht.
Wäre eine andere Lösung möglich gewesen?
Nicht, wenn die wirklichen Gründe für die Austritte in der beschlossenen Resolution liegen. Aber die unterscheidet sich von der Leo-Variante nur in heiß umkämpften Details. Und ich vermute: Die Gründe sind andere.
Nämlich welche?
Die Enttäuschung darüber, nicht gehört zu werden, ist sehr groß.
Woher kommt eigentlich die Affinität zu Resolutionen beim PEN? Deren realpolitischer Einfluss ist ja, vorsichtig gesagt, sehr überschaubar.
Wie gesagt, Resolutionen sind für mich nicht die zentrale Aufgabe des PEN Berlin. Im Leitungsteam dachten wir dann: Okay, jetzt liegen Resolutionsentwürfe vor, obwohl alle wissen, dass keine Vereinsresolution den Lauf der Welt beeinflusst. Aber zumindest für die deutsche Diskussion könnte es ein Gewinn sein, wenn es gelänge, beide Lager in wenigstens einer Frage zu einen. Darin steckt ja eine Chance, die in Deutschland niemand außer dem PEN Berlin hat.
Nämlich welche?
Die Chance zu einem Dialog zwischen Leuten, die nicht ohnehin schon miteinander im Dialog sind. Ich weiß, das klingt ambitioniert, aber wir hatten vor den Resolutionen, der Mitgliedersammlung und alledem eine Chance, die wir leider verpasst haben – allen voran ich als Verantwortlicher. Und vielleicht haben wir diese Chance immer noch, trotz allem.
Sind die Enttäuschungen und Verhärtungen nicht einfach zu groß inzwischen?
Vielleicht. Aber es gibt keine Alternative. Und vielleicht musste es auch mal knallen, damit es wieder konstruktiver weitergehen kann. Von einem der jetzt Ausgetretenen, dem Dramatiker Mohammad Al Attar, der sehr engagiert ist bei Demos für die Palästinenser, weiß ich zum Beispiel, dass er Auseinandersetzungen mit Leuten führt, die Sie oder ich nicht erreichen können.
Wie tritt er da auf?
Er sagt: »Leute, es ist unmoralisch, es ist unhistorisch, es ist falsch und wir schaden der palästinensischen Sache, wenn wir hier Diskussionen darüber führen, ob der Holocaust eine Lüge war oder eine segensreiche Sache.« Und da geht es um sehr viel mehr als die Stimmung in einem Autorenverein. Diese ausgetretenen Kollegen stehen nicht nur für sich selbst als Künstler und Intellektuelle, sie sind auch Repräsentanten und Vermittler. Per Leo könnte seine Interviewanfragen ja mal an diese Kollegen weiterreichen. Uns fehlen sie jetzt erst in unserem kleinen PEN-Berlin-Verständigungsraum, in dem wir versuchen müssen, Echokammern zu verbinden, die sonst nicht miteinander in den Dialog kommen.
Ein Verlust.
Ein großer Verlust. Ich will aber zuversichtlich bleiben. Und bitte alle darum, großzügiger zu sein mit dem, was wir hier gemeinsam versuchen. Wir sind ein junger Verein. Da geht auch mal was daneben, da kann man sich auch mal eine blutige Nase holen und richtig ärgern. Und ich lade alle Ausgetretenen ein, sich zu fragen, ob sie ihre Enttäuschung über eine Resolution höher gewichten wollen als die Menschenrechtsarbeit dieses Vereins – und als die Chance, die wir hier haben: auf ein Gespräch im gemeinsamen Vertrauen auf die Kraft des besseren Arguments.
Und was sagen Sie zu den Mitgliedern, die beim Thema Antisemitismus empfindlicher sind?
Die sind zu Recht empfindlich. Aber ich frage sie auch: Wie wichtig sind deine Differenzen mit einem arabischen Schriftsteller, der wenig überraschend auf den Nahostkonflikt eine andere Sicht hat als du, und der bestimmte Begriffe und Kategorien für passend hält, die du für falsch hältst? Und sind diese Differenzen wirklich größer als eure Gemeinsamkeiten in der Ablehnung von Antisemitismus und Rassismus außerhalb unseres kleinen Vereins? Denn ich glaube, dass sich das wahre Ausmaß der Verwerfungen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft durch den 7. Oktober und den Gaza-Krieg, auch in meinem Herkunftsmilieu der türkischen Gastarbeiter, erst in den nächsten Jahren zeigen wird.