Zum Tod von Sibylle Lewitscharoff
RBB, Meldung, 14. Mai 2023: »Die Autorin Sibylle Lewitscharoff ist am Samstag im Alter von 69 Jahren in Berlin verstorben. (…) Lewitscharoff ist mehrfach preisgekrönt. So erhielt sie 1998 für ihren Roman ›Pong‹ den Ingeborg-Bachmann-Preis. Es folgten die Romane ›Der Höfliche Harald‹ (1999), ›Montgomery‹ (2003) und ›Consummatus‹ (2006). Der Roman ›Apostoloff‹ wurde 2009 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. 2013 erhielt sie den Georg-Büchner-Preis. Dieser gilt im deutschen Sprachraum als der renommierteste Literaturpreis. (…) Lewitscharoff war Mitbegründerin und Mitglied der – einer Vereinigung von deutsch schreibenden oder im deutschsprachigen Raum lebenden Autoren, Publizisten, Schriftstellern, Übersetzern und Verlegern.« LINK
WDR, Meldung, 14. Mai 2023: »Die Schriftstellervereinigung PEN Berlin würdigte Lewitscharoff in einer Mitteilung als herausragende, immens originelle und gebildete Künstlerin. Sie sei ein beispielhaft starker, freier Mensch gewesen. Lewitscharoff hatte den PEN Berlin im vergangenen Jahr mitgegründet.« LINK
Frankfurter Allgemeine, Nachruf von Andreas Platthaus, 14. Mai 2023: »Sibylle Lewitscharoff gebrach es zuallerletzt an transzendentaler Gewissheit. Geboren und aufgewachsen im pietistischen Schwaben, war ihr protestantischer Glaube tief, doch in späteren Jahren sah sie dessen moralische Überzeugungen stärker von Angehörigen der katholischen Konfession vorgelebt. Das kann man ihren Büchern ablesen, allen voran dem 2016 erschienenen Roman ›Das Pfingstwunder‹, ihrem vorletzten. Eine solch (heilig)geistvolle literarische Theologie in Anknüpfung an Dante und mit einem Saal voller Dante-Philologen als Protagonisten muss man erst einmal wagen.« LINK
Zeit-Online, Nachruf von Björn Hayer, 14. Mai 2023: »Innerhalb des deutschsprachigen Literaturbetriebs war Sibylle Lewitscharoff einzigartig, in jederlei Hinsicht. Im Stil elegant bis manieriert, in der thematischen Orientierung eine Humanistin mit großem Gespür für kanonische Stoffe. Die Büchner-Preisträgerin (…) hinterlässt mehr als ein Werk. Es ist eine außerordentliche Art des Schauens, ein Geistersehen, das für nicht mehr und nicht weniger als die Wiederverzauberung der Welt einsteht.Sibylle Lewitscharoff gebrach es zuallerletzt an transzendentaler Gewissheit. Geboren und aufgewachsen im pietistischen Schwaben, war ihr protestantischer Glaube tief, doch in späteren Jahren sah sie dessen moralische Überzeugungen stärker von Angehörigen der katholischen Konfession vorgelebt.« LINK
NDR Kultur, Klassikboulevard, Nachruf von Alexander Solloch, 14. Mai 2023: »Sie war eine brillante Stilistin, ›der Stil‹, meinte sie, ›muss den Gnadenschatz bergen, der Erlösung vom Bann des Alltäglichen verspricht. Einmal allerdings ließ sie sich von ihrer Wortgewalt zu einer Bosheit verleiten, die ihr viele nicht verzeihen sollten. Im März 2014 sagte sie in einer Rede in Dresden, einer Polemik gegen künstliche Befruchtung, sie sei geneigt, Kinder, die ›auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen‹. Die Aufregung war groß, sie selbst hinterher untröstlich: ›Da ist mit mir ein bisschen der Gaul durchgegangen, auf eine ungute Weise. Da rumort der Vater in mir, der sich umgebracht hat, das heißt, der dann letztlich kein Vater mehr war. Aber diese zwei, drei Passagen, die definitiv zu aggressiv und dann in der Aggression auch dumm geraten sind: Ich kann sie nicht aus der Welt schaffen, ich kann nur immer wieder sagen, dass ich sie bedaure.‹« LINK
Welt, Nachruf von Tilman Krause, 14. Mai 2023: »Doch über der Schwäbin, der Protestantin, der Literaturbetriebsaktivistin, ja sogar über der Papierkünstlerin mit einem Hang zu filigranen Toten- und Schädelstätten (sehr makaber!) sollte man nicht vergessen, dass Sibylle Lewitschroff ja doch in erster Linie als Schriftstellerin von Bedeutung war. Spät, wie es in ihrer Generation nicht selten vorkam, debütierte sie 1998 erst als Mittvierzigerin mit einem Text aus der Welt der Psychiatrie, ›Pong‹, mit dem sie dann aber gleich den Bachmann-Preis gewann. Das Interesse am Pathologischen kennzeichnete auch ihren vielleicht besten, jedenfalls am souveränsten durchkomponierten Roman ›Montgomery‹ von 2003.« LINK
Süddeutsche Zeitung, Nachruf von Thomas Steinfeld, 14. Mai 2023: »Wenn Sibylle Lewitscharoff Menschen beschrieb, auch sich selbst, tat sie es mit einem scharfen Sinn für vage Momente und wechselnde Zustände. Ein Ich, hätte sie sagen können, ist sich selten gleich. Wenn es sich abends schlafen legt, ist es von anderer Beschaffenheit als beim morgendlichen Aufstehen. Es ist etwas Flüchtiges, Wankelmütiges, das von nichts Festem, sondern nur von einer Art Energie zusammengehalten wird.« LINK
Neue Zürcher Zeitung, Nachruf von Roman Bucheli, 14. Mai 2023: »Sosehr sie den Disput liebte, streitsüchtig war sie nicht. Im Gegenteil, sie war liebenswürdig in einem alten, geradezu ritterlichen Sinn, den Menschen und dem Leben herzhaft zugewandt. Vielleicht hatte Sibylle Lewitscharoff im Augenblick, da sie mit über vierzig Jahren ihre ersten Bücher veröffentlichte, schon genug vom Sterben gesehen. Wenn sie sprach, wurde es heller um sie. Und vielleicht hatte sie im Stillen auch beschlossen, dass der Tod und die Toten fürs Erste nur noch in ihren Büchern eine Rolle spielen sollten.« LINK
Der Freitag, Nachruf von Björn Hayer, 15. Mai 2023: »Nicht zuletzt diese humanistische Grundhaltung der studierten Religionswissenschaftlerin, verbunden mit einem klaren Wertekompass, steht dem Vorwurf so mancher entgegen, Lewitscharoffs Denken würde eine grundsätzliche Nähe zur neuen Rechten aufweisen.« LINK [€]
Die Zeit Nr. 21/03, Nachruf von Alexander Cammann, 16. Mai 2023: »Tod, Jenseits, Paradies, Hölle, das ewige Leben und immer wieder Glaube und Gott, inklusive diverser Zwischenreiche und Zweifel – es hätte einem ja mulmig werden können bei solch schwerem Stoff. Wären da nicht der Witz und die Leichtigkeit dieser Künstlerin gewesen, ihr Sprachvirtuosentum, das jeden Ernst jederzeit in ein Spiel verwandeln konnte, wenn sie es für sinnvoll hielt. Über bebende Tiefgründeleien konnte sie herrlich hemmungslos lästern, über Betroffenheitsprofis ebenso, wie überhaupt ihr schwäbisches Schandmaul, wie sie es selber gerne nannte, wohl unvergleichlich dasteht in der deutschen Literatur.« LINK
Frankfurter Rundschau, Nachruf von Judith von Sternburg, 17. Mai 2023: »Es gibt nichts Sinnloseres, als Lewitscharoffs Werk autobiografisch zu lesen, ihr Vater, ein Arzt, war allerdings in der Tat in den 40er Jahren aus Bulgarien nach Deutschland ins Exil gegangen. Er nahm sich das Leben, als seine Tochter elf Jahre alt war. Und auch Sibylle Lewitscharoff war eine rhetorisch versierte Rednerin, und dass sie etwa bei ihren höchst unterhaltsamen Frankfurter Poetikvorlesungen 2011 der gegenwärtigen Theaterregie einen mitgab, war noch relativ harmlos (konservativ war es auch, und übrigens gab sie in Frankfurt erfrischenderweise auch dem ›kurzen Satz‹ einen mit).« LINK
Die Zeit Nr. 27/03, Beitrag von Andreas Öhler, 21. Juni 2023: »Schade, Sibylle, dass der Tod keine Drehtür ist. So kannst Du mir nicht berichten. Hast Du nun einen Vergil angetroffen, der Dich durch die neun Kreise der Hölle bis zum Läuterungsberg ins Paradies führt? Am 9. Juni um 9.30 Uhr – für mich in aller Herrgottsfrühe – hast Du Deine Beerdigung anberaumen lassen. Ich musste um 7 Uhr aufstehen, um bis zum Waldfriedhof an der Heerstraße im Berliner Westend zu kommen. Auch wieder so eine kleine rechtschaffene schwäbische Garstigkeit von Dir: ›Wegen dem bissle Sterben wird jetzt kein ganzer Tag verplempert.‹ Den Ablauf der Trauerfeier hast du höchstselbst noch mit den engen Freunden durchgeplant. Die neben dem Pfarrer Hannes Langbein zugelassene Trauerrednerin, Deine Freundin Dorothee von Tippelskirch-Eissing, verriet, dass Dir diese Vorbereitung eine entspannte und gelassene Freude bereitet hat.« LINK