Eröffnungsrede von Eva Menasse, Kongress 2024

Eröffnungsrede des Kongresses »So kommen wir weiter« am 2. November 2024 in Hamburg

Nur so kommen wir weiter

Von Eva Menasse

[Rede als Audio hören]

Eva Menasse
Eva Menasse bei ihrer Rede in der Fabrik Altona. Foto: Marie Eisenmann

Vorgestern früh erhielten Deniz Yücel und ich, die wir noch gemeinsam Sprecher des erst vor zweieinhalb Jahren gegründeten PEN Berlin waren, eine Presse-Anfrage. Wir sollten uns zu dem riesigen Boykottaufruf aus dem angloamerikanischen Raum verhalten, der gerade öffentlich geworden war. An die tausend Schriftsteller und andere Kulturschaffende fordern dort, dass niemand mehr mit israelischen Kulturinstitutionen und Künstlern zusammenarbeiten möge, »die sich an der Verletzung der Rechte der Palästinenser mitschuldig machen«.

Als Verantwortliche für PEN Berlin mussten wir uns äußern; wie immer in Absprache mit meinem Kollegen teilte ich also mit: »Wir lehnen Kulturboykott ab, in jeder Form, in jeder Richtung. Wir freuen uns sehr auf unseren diesjährigen Festredner, den israelischen Schriftsteller Etgar Keret. Und wir sind – das nur zur Erinnerung – auch letztes Jahr manchen Forderungen klar entgegengetreten, unsere Festrednerin A.L.Kennedy wieder auszuladen«.

Als Verein, der sich der Rede- und Kunstfreiheit verschrieben hat, kommt man um solche Stellungnahmen nicht herum, obwohl ich mir aus Verzweiflung über den Zustand der Welt mal lieber gerade wieder die Decke über den Kopf gezogen hätte. Für die Schlagzeile »PEN Berlin ist empört« kann ich nichts; ich habe bloß eine E-Mail geschickt, ob ich dabei empört oder ganz ruhigen Blutes war, wusste die anfragende Kollegin strenggenommen nicht. Aber so ist das Medienspiel. Damit es mehr geklickt wird, fügen die Kollegen einer klaren Aussage Empörung hinzu.

Dieser neue Boykottaufruf, der sich blind und unscharf gegen israelische Kulturinstitutionen richtet, bietet mir allerdings die Gelegenheit, mit dem Ende meiner Amtszeit als Sprecherin dieses großartigen neuen Vereins noch einmal ein paar Grundsätze festzuhalten, an die ich mit aller Kraft glaube.

Kulturboykott ist immer falsch

Dazu gehört, dass Kulturboykott immer falsch ist, zu jeder Zeit, in jede Richtung, aus allen Gründen. Nicht zuletzt geht auf diese Überzeugung, vor über hundert Jahren, 1920 in London, die Gründung des ersten PEN Clubs zurück: Es sollte ein Neuanfang sein nach den publizistischen Feindseligkeiten, die dem Ersten Weltkrieg vorangegangen waren und an denen viele Schriftsteller der kriegführenden Länder einen großen Anteil hatten, indem sie sich nämlich hatten einspannen lassen in das nationalistische Einpeitschen. Wenn wir die PEN-Grundsätze von damals hochhalten wollen, müssen wir verstehen, müssen wir bis in die letzte Verästelung hinein begreifen, was auf dem Spiel steht, wenn Künstler boykottiert werden.

Ex Boardmitglieder
Vormalige Board-Mitglieder des PEN Berlin: Eva Menasse, Doris Akrap, Jörg Sundermeier, Simone Buchholz, Alexandru Bulucz (v.l.n.r.). Foto: Marie Eisenmann

Wir wissen nicht, was der verehrte Kollege Etgar Keret heute Abend sagen wird, genauso wenig, wie wir letztes Jahr, nur wenige Wochen nach dem 7. Oktober wussten, worüber die ebenso geschätzte Kollegin A.L. Kennedy sprechen würde. Wir hatten sie ein dreiviertel Jahr vorher als die berühmte Schriftstellerin eingeladen, die sie ist, keineswegs als Nahostexpertin. Kritisiert wurde dann, dass sie in den Jahren zuvor BDS-Aufrufe unterschrieben hatte. Aber wenn man ganz grundsätzlich gegen Kulturboykott ist, dann darf man auch Menschen nicht boykottieren, die schon einmal für Kulturboykott unterschrieben haben. Einfach deshalb, weil jeder Mensch und auch jeder Schriftsteller soviel mehr ist als zwei Unterschriften – wie im Fall von Kennedy –, soviel mehr als seine Staatsbürgerschaft – wie zum Beispiel im Fall von Keret.

Als wir uns dann, bereits kurz nach dem letzten Kongress, um Etgar zu bemühen begannen, ahnten wir bereits, dass auch das ein Jahr später zu einem Skandalon werden könnte, aus dem genau entgegengesetzten Grund – wenngleich nicht unbedingt in Deutschland.

Aber eben das – Skandalisierungen aus diametral entgegengesetzten Gründen – bietet eine schöne Möglichkeit zur Erkenntnis. Genauso wenig, wie man Etgar Keret, diesen dezidierten Kritiker der israelischen Regierung, dafür verantwortlich machen kann, was die rechtsextremste Regierung, die Israel je hatte, gerade an tödlicher und auch moralischer Verwüstung in der Region anrichtet, genauso wenig durfte man Adania Shibli, die preisgekrönte palästinensische Schriftstellerin, im vergangenen Jahr mal eben mir nichts-dir nichts in die Nähe des grauenhaften Hamas-Terrors rücken, indem man eine Preisverleihung auf der Frankfurter Buchmesse »zum damaligen Zeitpunkt« für unpassend erklärte.

Was hat man sich damit angemaßt! Was haben sich deutsche Zeitungen ebenso wie Schriftstellerkollegen damals zuschulden kommen lassen, indem sie Shibli und ihren großen Roman »Eine Nebensache« schon in den Schlagzeilen in die Nähe von eliminatorischem Antisemitismus rückten! Und warum hat in diesem Jahr eigentlich keiner nachgefragt, was aus der verschobenen Preisverleihung geworden ist?

Bascha Mika
Bascha Mika moderiert durch den gesamten Kongress. Foto: Marie Eisenmann

Und hier noch ein anderes Beispiel, denn nur möglichst vollständig ergeben sie alle den Sinn, den ich meine. Vor zwei Jahren eröffnete ich unseren ersten Kongress unter anderem mit diesen Worten: »Es ist unangemessen, von ukrainischen Schriftstellern regelmäßig zu verlangen, doch zumindest den literarischen Wert von Puschkin bis Dostojewski anzuerkennen, so unangemessen wie jedem russischen Künstler erst einmal den rituellen Anti-Putin-Schwur abzufordern. Und es wäre ebenso verfehlt,  ukrainische Autorinnen ausschließlich danach zu beurteilen, ob sie gerade rasend Lust haben, mit russischen Kolleginnen öffentlich zu diskutieren, und seien es noch so bekannte Dissidentinnen. (…) Aber genau deshalb sind in Zeiten des Krieges die Gespräche, die nur außerhalb des Kriegsgebiets geführt werden können, ein hohes Gut. Sie weiterhin zu ermöglichen, muss unser Ziel bleiben.« Das gilt heute noch viel mehr für alle Konfliktherde dieser Welt. Das Gespräch und die Debatte hier sind etwas grundsätzlich anderes als dort, wo Menschen täglich töten und sterben. Diesen Unterschied verstehen nur Fanatiker nicht.

Auf der vor zwei Wochen zu Ende gegangenen Frankfurter Buchmesse haben wir, der PEN Berlin, einen großen Italien-Schwerpunkt veranstaltet. Wir haben dafür mit jenen italienischen Schriftstellerinnen zusammengearbeitet, die sich öffentlich gegen den offiziellen Gastlandauftritt der rechten Regierung Meloni gewandt hatten. Nicht nur hatte das offizielle Italien seinen berühmtesten Autor, den Mafia-Experten und eminenten Regierungskritiker Roberto Saviano, gar nicht erst in die Delegation eingeladen, es wollte auch genau jene Diskussionen nicht führen, die unseren Kollegen unter den Nägeln brannten, nämlich jene über den Rechtsruck in ganz Europa, über die Diffamierung von Autoren, über Manipulation und Einschüchterung im Kulturbetrieb.

Wir hatten also – und darauf sind wir stolz – die berühmtesten zeitgenössischen Autoren Italiens auf unseren PEN-Berlin-Veranstaltungen: Saviano selbst, aber auch Paolo Giordano, Nicola Lagioia, Donatella di Pietrantonio, Francesca Melandri und Antonio Scurati. Sie schilderten ungeheuer eindrucksvoll, wie es sich anfühlt, wenn man plötzlich als einzelner herausgehoben und in vielen Medien angefeindet wird. Wie es sich anfühlt, wenn die eigenen Kollegen abrücken, indem sie sagen, nun ja, vielleicht hätten er oder sie wirklich nicht diese scharfen Worte benützen müssen. Vielleicht sind er oder sie ja wirklich übers Ziel hinausgeschossen. Warum müssen sie sich überhaupt bei solchen Sachen einmischen? Und das ließ einen wiederum an die beeindruckende Autobiographie von Salman Rushdie denken, an das Buch mit dem Titel »Joseph Anton«, das er während seines jahrelangen Versteckens vor der über ihn verhängten Fatwa schrieb: Auch er schildert, wie schmerzhaft es vor allem ist, wenn die Kollegen einem die Solidarität entziehen. Fast noch bedrohlicher als der Umstand, dass fanatisierte Mörder nach einem suchen.

Die Angst der autoritären Machthaber

Auf der Buchmesse sprachen wir mit den italienischen Kolleginnen außerdem oft darüber, warum es ausgerechnet die Schriftsteller sind, gegen die autoritäre Regimes oder auch nach rechts abgerutschte gerade-noch-Demokratien als erstes vorgehen. Ich kenne das aus meinem Heimatland Österreich. Schon im Jahr 2000 entfesselte die rechte FPÖ, die damals in der Regierung war, eine ungeheuerliche öffentliche Kampagne gegen Schriftsteller wie Elfriede Jelinek und Peter Turrini. Und in der Türkei läuft aktuell wieder ein Verfahren gegen den preisgekrönten und unserem Verein verbundenen Schriftsteller Yavuz Ekinci, ein Verfahren, dessen Grundlage ein Roman ist. Ein Roman, der einen Mann ins Gefängnis bringen könnte. Warum also die Schriftsteller, was macht sie, die sich selbst meist so machtlos fühlen, in den Augen der Machthaber so gefährlich, dass man sie verfolgen und verbieten muss?

DanielKahn
Daniel Kahn spielt zum Ende des PEN-Berlin-Kongresses. Foto: Jayrôme Robinet

Es gibt viele Antworten auf diese Frage, ich möchte das hier gar nicht ausführen. Nur so viel, vielleicht: Autoren sind Individualisten, sie haben keinen ganz einfachen Beruf gewählt, aber gerade das macht sie unabhängig. Mit ihren Werken der Fiktion erreichen sie ein großes Publikum, jenseits von dessen politischen Überzeugungen. Denken wir daran, denken wir an die Angst der autoritären Machthaber vor den Schriftstellerinnen, wenn auch wir hier, in Sicherheit und Frieden, plötzlich meinen, dass der eine oder die andere besser nicht öffentlich sprechen, besser gerade keinen Preis bekommen sollte. Denken wir daran, dass wir, die wir die Spaltung und Polarisierung allerorten, die eminente Verengung des Diskurses so gern lautstark beklagen, daran vielleicht auch unseren Anteil haben könnten.

Vor zweieinhalb Jahren habe ich mich zusammen mit Deniz Yücel und vielen anderen in dieses verrückte Abenteuer geschmissen, einen neuen PEN zu gründen, weil es das war, was ich am meisten vermisst habe in Deutschland: eine aktive, lebendige Schriftstellerinnen- und Autorenvereinigung.

Ein Zusammenschluss der schreibenden Menschen, die eben alle Individualisten und oft genug Querköpfe sind, aber die dennoch ihren kleinsten gemeinsamen Nenner – Wir können in diesem Land frei und unbeeinflusst schreiben – so sehr achten, dass sie bereit sind, ihn umzuschmieden zu einer starken Plattform. Einer Plattform, die die Rede-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit aller nach allen Seiten hin verteidigt, und die im Notfall die kontroversen, schwierigen und heiklen Diskussionen selbst organisiert. Eine Plattform, breit und sicher genug, um zumindest einigen von jenen Kolleginnen und Kollegen zu helfen, die in ihren Ländern verfolgt, eingesperrt, gefoltert oder ins Exil gezwungen wurden, nur wegen dem, was sie schrieben oder sagten.

Eine Plattform für verfolgte Stimmen 

»Wer ein Menschenleben rettet, der rettet die ganze Welt« – vermutlich ist das der bekannteste Satz aus dem Talmud. Weil es diesen Verein gibt, leben heute unter anderem die türkisch-kurdische Lyrikerin und Romanautorin Meral Simsek mit ihren inzwischen erwachsenen Söhnen, der afghanische Journalist Nasir Nadeem, die iranische LGBTQ-Aktivistin Sareh mit ihren beiden Kindern, die ebenfalls aus dem Iran stammende Lyrikerin Mahtab Yaghma mit ihrem sechsjährigen Sohn und der marokkanische Journalist Imad Stitou in Sicherheit in Deutschland. Anderen Kollegen konnten wir punktuell helfen, mit der derzeit so schwierigen Wohnungsbeschaffung, mit ihren Anträgen bei der Krankenversicherung, mit der Vermittlung an Verlage oder mit einem befristeten Aufenthalt, um einmal frei von Stress, Prozessen und Bedrohung durchzuatmen. Über drei andere Kolleginnen, die anderswo seit Jahren in Haft sind, werden Sie heute Abend in drei Kurzpräsentationen Näheres erfahren. Und diese drei sind nur ein Ausschnitt aus einer bestürzend großen Zahl weltweit.

Das jedenfalls ist unsere Kernaufgabe, die Plattform und die Menschenrechtsarbeit für verfolgte Autorinnen und Autoren; wir haben mit dem PEN Berlin eine Struktur geschaffen, auf die sich diese Menschen, die wir hierher geholt haben, verlassen können müssen.

Wenn ich heute zurückschaue auf ziemlich genau 36 Monate, ist mir fast unbegreiflich, was wir sonst noch alles geschafft haben. Fünf Buchmessen mit Programm bespielt, mit dem heutigen drei Kultur-Kongresse organisiert, dazu an die hundert Veranstaltungen, Lesungen, Diskussionen, Dutzende Pressemitteilungen und öffentliche Interventionen.  Dann, im gerade vergangenen Sommer, Deniz Yücels Meisterleistung, die so geglückte und medial vielbeachtete 37-teilige Ost-Gesprächsreihe »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen« zum Thema Meinungsfreiheit und Demokratie, die vor den Landtagswahlen durch Sachsen, Thüringen und Brandenburg tourte.

Den nicht ganz hürdenfreien Weg in den Dachverband PEN International haben wir quasi nebenbei in Rekordzeit bewältigt.

Menasse Yücel
Deniz Yücel und Eva Menasse bei dem Kongress »So kommen wir weiter«. Foto: Marie Eisenmann

Wir sind von 370 auf über 700 Mitglieder angewachsen, was uns auch logistisch inzwischen schön etwas abverlangt. Und die breite Berichterstattung über unsere Arbeit, die vor allem in den wilden Anfängen beileibe nicht nur freundlich war, bestätigt uns jedenfalls: Wir sind eine Art kulturpolitischer Player geworden. Als Newcomer mussten wir das übrigens, ständig auf uns aufmerksam machen, auf die Gefahr hin, damit auch manchen unserer Mitglieder auf die Nerven zu gehen. Aber das war auch eine Bedingung unserer Menschenrechtsarbeit, die, ich wiederhole es noch einmal, den glühenden Kern unserer Arbeit bildet: Weil man von uns schon gehört hatte, bekamen wir Termine mit der Politik, konnten wir Kontakte knüpfen und Kooperationen eingehen, Förderungen beantragen, Stipendien, Aufenthaltstitel, Wohnungen für die oben genannten Kolleg:innen organisieren.

Das ist der PEN Berlin, auf den ich stolz bin, in all seiner Breite. Das alles zusammen genommen ist die Arbeit der vergangenen zweieinhalb Jahre. Seit langem und gewiss vergeblich wünsche ich mir von den Medien, dass sie diesen Aspekt mehr in den Blick nehmen, wenn sie wieder so genüsslich über unsere Konflikte und einzelne Austritte berichten: Wo ist denn das große Porträt von Meral Şimşek, über die Erschütterung eines Lebens im plötzlichen Exil, wo das Interview mit Sareh, die im Todestrakt der Mullahs saß, oder mit der Lyrikerin Mahtab Yaghma über die aktuelle Situation im Iran? Wie geht es Imad Stitou, der monatelang im tunesischen Untergrund leben musste, bevor wir ihn mit erheblichen Schwierigkeiten endlich nach Deutschland holen konnten? Es gibt glücklicherweise inzwischen so viele Bücher über die jüdischen Exilautoren der Nazizeit, aber immer noch so wenige über die Exilanten der Gegenwart. Es sind zwei Seiten einer Geschichte. Exil ist – besonders für Schriftsteller, die damit auch die Sprache und ihr Publikum verlieren – immer eine menschliche Katastrophe.

Gemeinsam mit Deniz Yücel, dem ich an dieser Stelle danken will für den irrwitzigen Kraftakt der letzten zweieinhalb Jahre, für seine unbändige Energie, seine Kreativität, seinen Humor und ebenso für die oft nervenzerfetzenden Diskussionen, die uns beide, aber vor allem den Verein am Ende immer weitergebracht haben; gemeinsam mit Deniz also bin ich mir darüber einig, wo die einzige und überprüfbare Wirksamkeit eines solchen Unternehmens wie des PEN Berlin liegt: darin, in dieser Menschenrechtsarbeit. Und aufs Ganze gesehen eben nicht in der einen oder anderen, oder gar in der ausgebliebenen Presseerklärung, der missglückten Formulierung in einem Interview, der krassen Äußerung irgendeines Mitglieds.

Wir werden weder den Nahost-Konflikt noch den Ukrainekrieg von hier aus und per Resolution lösen. Wirklich absurd wird es meiner persönlichen Meinung nach, wenn PEN Zentren die Resolutionen anderer PEN Zentren per Resolution verurteilen. Nichts davon beeinflusst den Lauf der Welt, aber es lenkt alle ab von der eigentlichen Arbeit.

Was uns stark und glaubwürdig macht

Was wir tun können und müssen, ist, uns jeden Tag aufs Neue zusammenzuraufen, um weiter zusammenzuarbeiten, zum Beispiel in diesem Verein. Jeden Tag unsere Vorbehalte gegen andere zu überprüfen und zu überwinden. Immer lieber das persönliche, analoge Gespräch zu suchen, anstatt im Internet dumme Daumen abzugeben für hitzige Kampagnen gegen Menschen oder Institutionen, deren angebliche Fehlleistungen uns selbst möglicherweise gar nicht aufgefallen wären.

Eva Menasse
 Eva Menasse. Foto: Marie Eisenmann

Was uns als PEN Berlin stark und glaubwürdig macht, ist unsere Unterschiedlichkeit, unsere weltanschauliche Bandbreite – solange wir sie uns bewahren können; wenn wir sie verlieren, werden wir zu etwas Ähnlichem wie eine Lobbygruppe – und selbst die sind ja heutzutage bis zum Zerreißen uneins.

Einer unserer heutigen Gäste auf diesem PEN-Berlin-Kulturkongress, der im angloamerikanischen Raum hochberühmte Autor und Essayist Fintan O’Toole, analysiert anhand des blutigen irischen Konflikts die ungesunden, aber seelisch so wärmenden Vorteile, die Spaltung und Polarisierung für all jene bringt, die sich davon mitreißen lassen. Sie ziehen Menschen an, die, wie vermutlich wir alle, vom Zustand der Welt oft überfordert und erschreckt sind: Und deshalb ergeben sie sich dieser falschen Nähe, die durch das banal-binäre Konzept von us and them, von wir und die entsteht.

Man muss sich, sagt Fintan, dann gar nicht mehr so genau anschauen, wer diejenigen eigentlich sind, mit denen man da Seite an Seite brüllt, mit denen man im schlimmsten Fall schon drauf und dran ist, in den Kampf zu ziehen – denn die Hauptsache ist, den vermeintlichen Gegner zu definieren, und überzeugt zu sein, dass man keinesfalls so ist wie er. Es ist die negative Identität der Abgrenzung. Daher ist das vermutlich Schwierigste zur Zeit: sich gegen die eigene Gruppe zu stellen, die Überzeugungen der »eigenen Leute« ständig kritisch zu überprüfen, ihre Verhärtungen zu bemerken. Es waren in der Vergangenheit oft Künstler und Schriftsteller, die störrisch dagegenhielten, wenn alle anderen sich in eine bestimmte Richtung mitreißen ließen.

Ich glaube, am Ende ist es, bei aller Unübersichtlichkeit der derzeitigen Welt, gar nicht so schwer: Wir müssen mit denen gehen, die gegen die Spaltung und an der Verstärkung der Plattformen arbeiten, die nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner suchen und dafür sorgen, dass das Gespräch nicht verstummt. Nur so kommen wir weiter.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen spannenden, lehrreichen und hoffentlich auch unterhaltsamen Kongress, und dem, »meinem« PEN Berlin eine glanzvolle Zukunft, die sich gerade auch an seinen konstruktiven Kontroversen messen lassen wird.

* Eva Menasse, geboren 1970, Schriftstellerin (»Vienna«, »Dunkelblum«) und Essayistin (»Alles und nichts sagen«), von Juni 2022 bis November 2024 Sprecherin des PEN Berlin

[Überblick über alle Beiträge des Kongresses]

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