Eröffnungsrede von Deniz Yücel auf dem PEN-Berlin-Kongress

Eröffnungsrede von Deniz Yücel auf dem Kongress »Mit dem Kopf durch die Wände«, 16. Dezember 2023
Fotos: Ali Ghandtschi

Tätige Verzweiflung oder: Behind the Scenes of PEN Berlin

Blick aus dem Festsaal Kreuzberg auf Deniz Yücels Eröffnungsrede. Alle Fotos auf dieser Seite vom Kongress »Mit dem Kopf durch die Wände«

Ich begrüße Sie herzlich zum zweiten Kongress des PEN Berlin!

Der PEN Berlin lehnt BDS ab. Das ist jetzt kein klassischer Einstieg in eine Begrüßungsrede. Aber ich habe es versprochen. Um nicht zu sagen: Ich stehe im Wort.

Denn auf der gestrigen Mitgliederversammlung äußerten einige Mitglieder den Wunsch, dass wir als Leitungsgremium klarstellen, wie wir es mit der Kampagne halten, die den Staat Israel wirtschaftlich, politisch und kulturell isolieren will – und damit in manchen Gegenden der Welt recht erfolgreich ist. Nicht im wirtschaftlichen und politischen Bereich, aber umso mehr im kulturellen und wissenschaftlichen. Ich wiederholte daraufhin, was Eva Menasse und ich schon zigfach in Interviews gesagt haben: BDS ist mit den Werten der PEN-Charta nicht vereinbar – und ich versprach, dies gleich zu Beginn dieses Kongresses so lange zu wiederholen, bis es inschallah wirklich jeder kapiert hat: Wir lehnen BDS ab.

Auch wenn das oft verwechselt wird, geht der Streit in Deutschland ja zum Glück nicht um die Frage »Israel-Boykott: ja oder nein?«, sondern darum, wie man mit Künstlern umgehen soll, die die BDS-Kampagne unterstützen. Und wir halten es so, wie es Eva Menasse vor einigen Tagen in einem Gastbeitrag in der Neuen Zürcher Zeitung schrieb: Wir unterscheiden, »ob jemand mit Tausenden anderen einen offenen Brief unterschrieben oder sich den Boykott Israels zur Lebensaufgabe gemacht hat. Und ob es Palästinenser sind, die sich für BDS einsetzen, oder Leute aus irgendeiner engagierten Ferne«.

Weil wir im Zweifel immer dafür sind, Debattenräume so weit wie möglich offen zu halten. Weil die Freiheit des Wortes auch die Freiheit des dummen, des verstörenden, gar des vermeintlich skandalösen Wortes umfasst. Weil wir mit unserem letztjährigen Festredner Ayad Akhtar gegen jedes »Klima digitaler Einschüchterung« sind. Weil wir Cancel Culture nicht nur dann ablehnen, wenn‘s uns gerade in den Kram passt. Aus all diesen Gründen lehnen wir, das Leitungsgremium des PEN Berlin, einen pauschalen Boykott von allem und jedem, der irgendwie als »BDS-nah« etikettiert wird, ab. Und darum lehnen wir auch BDS ab. Ist doch logisch, oder?

Der Streit war gewollt

Vordere Reihe v.l.n.r.: Sandra Hetzl, Eva Menasse, Simone Buchholz, Susan Neiman, Joachim Helfer, Elisabeth von Thaddden

Ich hoffe, jeder und jede von uns wird heute einen Gedanken mitnehmen, auf den wir bislang nicht gekommen sind, oder eine Frage, die wir uns bislang nicht gestellt haben. Vielleicht geht es Ihnen ähnlich: Ich bin in diesem Jahr 50 geworden und je älter ich werde, desto brennender interessiere ich mich für Fragen – und desto mehr schwinden die Antworten, die ich mit Gewissheit zu kennen glaube.

Nicht alt, sondern gerade einmal anderthalb Jahre ist die Autorenvereinigung PEN Berlin. Der Dachverband PEN International hingegen bringt es schon auf über 100 Jahre. Bei der Gründung des PEN im Jahr 1921 in London standen diese drei Buchstaben für »Poets, Essayists, Novelists«, inzwischen wurde dies erweitert auf: »Poets, Playwrights, Editors, Essayists, Novelists«. Und ich füge gern hinzu – aus höchster Wertschätzung für Kollegen, die dieses Stilmittel der Aufklärung beherrschen – »Polemicists«.

Kurz: PEN steht für schreibende Menschen unterschiedlichster Genres. Aber nicht, wie man in den vergangenen Wochen zuweilen annehmen konnte, für »Palestine, Esrael, Nahostkonflikt« (wenngleich der PEN Berlin BDS ablehnt).

Hervorgegangen ist der PEN Berlin, Sie werden es vielleicht wissen, aus einem heftigen Streit im deutschen PEN-Zentrum mit Sitz in Darmstadt, bei dem es nicht nur, aber eben auch um Positionen zum russischen Überfall auf die Ukraine ging. Anderthalb Jahre, einen bestialischen Überfall und einen Krieg später streiten wir, auch das werden Sie mitbekommen haben, wieder um die richtige Position.

Eine Ironie der Geschichte? Ich meine: nein. Denn wir haben den PEN Berlin nicht als Gesinnungsgemeinschaft gegründet. Vielmehr wollten wir eine Vereinigung, die nicht allein im Hinblick auf Herkunft, Geschlecht, sexueller Orientierung, Alter usw. divers ist, sondern auch in politischer Hinsicht. Der Streit war nicht nur vorprogrammiert, er war gewollt.

Ich bedauere, dass es nicht in Gänze möglich war, diesen Streit innerhalb unserer Autorenvereinigung, ohne Brüche und Abschiede zu organisieren. Aber ich denke, dass wir auf der gestrigen Mitgliederversammlung einen großen Schritt in die richtige Richtung genommen haben, nicht zuletzt mit zwei unterschiedlich nuancierten, aber nicht gegensätzlichen Resolutionen, die beide von Mitgliedern eingebracht wurden: eine zur »Solidarität mit Jüdinnen und Juden in Deutschland, Israel und überall«, eine zweite »Gegen gesellschaftliche Polarisierung und illiberale Tendenzen im Kulturbetrieb«.

Ich bestehe weiterhin auf den Grundsatz We agree to disagree. Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sind. Aber zwei Dinge verbinden uns in diesem Verein: Zum einen der Einsatz für die Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit, zum anderen die Unterstützung für Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt, die verfolgt, verhaftet, gefoltert werden, weil sie von eben dieser Freiheit Gebrauch gemacht haben.

Und in einer weiteren Hinsicht waren wir uns weitgehend einig: dass wir, darunter viele Kollegen und Kolleginnen aus dem alten PEN wie die großartige Ursula Krechel, die heute Abend zu Ihnen sprechen wird, einen auch in Sprache und Form neuen PEN haben wollten. Einen PEN, der zum Beispiel für einen Kongress in den Festsaal Kreuzberg oder beim Bachmann-Wettbewerb zum Public Viewing ins Hinterzimmer eines kurdischen Restaurants einlädt. Einen Verein, der nicht – oder nicht allzu sehr – nach Verein klingt, riecht und schmeckt.

Auf unserer Gründungsversammlung zitierte ich aus Rainald Goetz‘ berühmten Text »Subito«, den er 1983 blutüberströmt in Klagenfurt vorgetragen hatte, aus seiner herrlichen Suada gegen die »bräsigen Chef-Peinsäcke Böll und Grass«, die ständig irgendetwas verteidigen wollten, wo Literatur doch besser »geil angreifen« müsse.

Solidarität, die wir leisten können

Sieht aus wie Daft Punk, sind aber Doris Akrap und Simone Buchholz

»Geil angreifen«, wer das möchte, klar, ich bin sehr für geil angreifen. Aber geil angreifen macht man besser individuell, als Autor. Doch bei aller Liebe zum Individualismus und aller Aversion gegen Vereinsmeierei gibt es ein paar Dinge, die niemand von uns allein hinkriegt. Allen voran: Solidarität mit verfolgten Kolleginnen und Kollegen, die symbolische und öffentlichkeitswirksame Unterstützung wie die praktische und konkrete. Das ist unsere Kernaufgabe. Darum haben wir heute auch den Festsaal Kreuzberg mit den Bildern gefangener Autorinnen und Autoren geschmückt, die wir Ihnen im Laufe dieses Kongresses vorstellen werden.

Es steht nicht in unserer Macht, Israelis und Palästinensern ein Leben in Freiheit und Frieden zu ermöglichen, so, wie es nicht in unserer Macht steht, den Ukrainerinnen und Ukrainern zu einem Leben in Freiheit und Frieden zu verhelfen. Aber im Glücksfall können wir einzelnen Kolleginnen und Kollegen helfen, ihren Unterdrückern zu entkommen und sich ein neues Leben in Freiheit und Frieden aufzubauen. Gewiss, ein bescheidenes Ziel. Aber eben die Art von Solidarität, die wir leisten können.

Bevor ich an diesem Punkt – der Solidarität – fortfahre, erlauben Sie mir einen persönlichen Einschub, passend zum heutigen Panel über das Ich in der Literatur. Einen persönlichen Einschub, wenngleich mein Bezug nicht annähernd vergleichbar ist mit dem Bezug der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Panels »Reden auf schmalem Grat«.

Also: Im April 2002 war in Berlin eine große propalästinensische Demonstration angemeldet. Zuvor war es im Zuge der zweiten Intifada auf Demonstrationen zu judenfeindlichen Ausfällen gekommen, weshalb ein paar Freunde von mir, darunter Doris Akrap, die später am Abend zum Tanz bitten wird, auf der Friedrichsbrücke in Berlin-Mitte, in Sichtweite der propalästinensischen Demonstration, eine Solidaritätskundgebung mit Israel abhalten wollten.

Es waren andere Zeiten: Martin Walsers Friedenspreisrede, mit der er, ob gewollt oder nicht, den heutigen Höckes und Gaulands souffliert hat, lag noch nicht lange zurück. In der FDP machte Jürgen Möllemann Welle, in der CDU Martin Hohmann. Und auf der besagten propalästinensischen Demonstration liefen 18.000 Teilnehmer, vorne Politiker der Grünen und der PDS, hinten Kinder, deren Eltern ihnen Sprengstoffattrappen um den Bauch gebunden hatten.

Auf die Bitte meiner Freunde moderierte ich die Gegenkundgebung von etwa 100 Leuten, bis wir sie auf Anordnung der Polizei aus Sicherheitsgründen auflösen mussten.

Anderthalb Jahre darauf, im Herbst 2003, kam es in Istanbul zu Terroranschlägen auf die Neve-Shalom und die Beth-Israel-Synagoge. Zwar bekannte sich al-Qaida dazu, aber die Täter entstammten einer dschihadistischen türkischen Gruppe. Mein damaliger Mitbewohner Aycan Demirel und ich dachten: Wenn sonst niemand etwas unternimmt, müssen halt wir etwas machen.

Also organisierten wir mit weiteren Freunden in Kreuzberg eine Kundgebung gegen Antisemitismus, zu der wir unter anderem den Türkischen Bund Berlin Brandenburg und Cem Özdemir als Redner einluden. Überwältigend waren die Zuschriften türkischer Juden, die sich dafür bedankten, dass zum ersten Mal überhaupt nichtjüdische Türken gegen Antisemitismus in der Türkei protestierten.

Nicht jedes fehlende Bekenntnis ist ein Schweigen

Panel »Problembaklava« v.l.n.r.: Daniel-Dylan Böhmer, Murat Kayman, Erica Zingher, Jouanna Hassoun und Imran Ayata

Was ich mit damit sagen will: Das Wort »Solidarität« ist mir kostbar, erst recht, seit ich während meiner Verhaftung durch das Erdoğan-Regime in den Genuss einer großartigen Solidarität kommen durfte.

Doch Solidarität erfordert nicht nur einen gewichtigen Anlass, sondern auch einen Einsatz: Zeit, Mühe, Geld – unter Umständen sogar die Bereitschaft, ein Risiko einzugehen. Sich unter Gleichgesinnten auf Facebook gegenseitig Zuspruch zu versichern, ist noch keine Solidarität.

Genau deshalb wäre ich dagegen gewesen, nach dem Massaker der Hamas im Namen des PEN Berlin eine Solidaritätsadresse zu veröffentlichen, was uns einige Mitglieder – und zwar nicht nur einige wenige, die laut oder still ausgetreten sind – vorgehalten haben: Nicht aus mangendem Mitgefühl haben wir auf eine solche Adresse verzichtet, sondern weil Solidarität mehr erfordert als einen Text aus dem ewiggleichen Stehsatz, der sich auf dem Weg zur Kaffeemaschine schreiben lässt – und der an jenen Sound der im Pfeifendunst verkündeten Großresolutionen von Großschriftstellern angeknüpft hätte, den wir ja hinter uns lassen wollten.

Wir dachten: Wie sprechen lieber mit Taten. Zum Beispiel mit der beeindruckenden Veranstaltung »In Sorge um Israel«, die wir gleich am ersten Tag auf großer Bühne bei der Frankfurter Buchmesse kurzfristig organisiert haben.

Dabei teile ich die Kritik am langen Schweigen mancher Institutionen und Personen. Doch nicht jedes fehlende Bekenntnis ist ein Schweigen und nicht jedes Schweigen ist dröhnend. Der Maßstab dafür ist ein individueller. Wer sich zum Beispiel regelmäßig – und oft zurecht – gegen Rassismus und Islamophobie ausspricht, aber dann nichts dazu sagt, wenn auf deutschen Straßen ein Massenmord an Juden gefeiert wird, der hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Und hätte der PEN Berlin in der Vergangenheit außerhalb seiner Kernthemen Presseerklärungen abgegeben, zur Solidarität mit der Ukraine, zur Rettung des Klimas – oder zu den zivilen Opfern im Gazastreifen –, aber keine zum 7. Oktober, diese Kritik wäre berechtigt gewesen.

Ein weiterer Grund meiner Zurückhaltung: Ich schreibe ungern Presseerklärungen, die keine Chance auf Veröffentlichung haben, zumal selbst Presseerklärungen aus unserem Kernbereich immer wieder untergehen. Das gehört zwar zum Geschäft einer NGO, ist aber manchmal wirklich ärgerlich. Als wir neulich mitteilten, dass unser Ehrenmitglied Toomaj Salehi, ein iranischer Rapper, nach elf Monaten im Folterknast und seiner zwischenzeitigen Freilassung erneut verhaftet worden war, war dies keiner Zeitung zwei Silben wert – obwohl der Zusammenhang zum Nahost-Klinkt offensichtlich ist: Wäre es der iranischen Freiheitsbewegung, wäre es »Jin, Jiyan, Azadi« gelungen, das Mullah-Regime zu stürzen, hätte die Hamas den Massenmord am 7. Oktober womöglich nicht gewagt.

Jede Solidaritätsgeste hat einen konkreten Adressaten 

Sareh (Zahra Sedighi Hamedani) (li.), Übersetzerin Sepid Birashk

Auf einem der heutigen Panels werden wir Sareh, Zahra Sedighi Hamedani, zu Gast haben, eine LGBTQ-Aktivistin und Bloggerin, die anderthalb Jahre im iranischen Kerker verbracht und vielleicht auch dank der internationalen Solidaritätskampagne, an der wir uns beteiligt haben, der Todesstrafe entgehen konnte.

Solidarität hat noch eine weitere Komponente: Wenn wir kurz nach dem Mordanschlag auf Salman Rushdie eine Lesung aus seinen Texten organisieren, wenden wir uns an eine allgemeine Öffentlichkeit; wenn wir eine Pressemitteilung für Sasha Filipenko, der ein weiterer internationaler Gast dieses Kongresses ist, veröffentlichen, dann in der kleinen Hoffnung, ein wenig Druck auf die Bundesregierung auszuüben, damit sie ihrerseits Druck an das belarussische Regime weitergibt.

Darum hat jede Solidaritätsgeste vor allen politischen Überlegungen einen konkreten Adressaten. Es gilt, den jeweiligen Menschen Anteilnahme zu vermitteln: Toomaj Salehi, Salman Rushdie, Sasha Filipenko…

Nach dem 7. Oktober dachte ich: Es wird in Israel niemanden interessieren, ob eine deutsche Autorenvereinigung etwas dazu sagt oder nicht. Was ich nicht bedacht hatte, war, dass manche unserer jüdischen Mitglieder – ungeachtet unserer üblichen Veröffentlichungspolitik, ungeachtet unserer Lesungen gegen Antisemitismus –, das Fehlen einer Solidaritätsadresse in einer Weise interpretieren könnten, die niemals beabsichtigt war. Wenn wir euch den Eindruck von mangelndem Mitgefühl vermittelt haben, dann bedauere ich dies zutiefst.

In der Kommunikation nach innen ist in den vergangenen Wochen nicht alles optimal gelaufen. Allerdings ist es auch so: Wessen erste Wortmeldung in einem Verein darin besteht, auf Facebook seinen Austritt mitzuteilen, der entzieht sich dem Gespräch. Und wenn jemand anderes in seinem Austrittsschreiben sagt, er habe sich so und so viele Jahre mit Antisemitismus beschäftigt und daher kein Verständnis für »Wohlfühljuden«, die »ihre eigenen Leute zum Ausverkauf anbieten«, dann offenbart dies einen moralischen Abgrund, auf dem sich schwerlich ein Gespräch aufbauen lässt.

Manchmal ist es lustig, eine Autorenvereinigung zu leiten

Eva Menasse bei der Vorstellung der Festrednerin A.L. Kennedy

Heute Abend steht ja ein Poetry Slam Mensch gegen Künstliche Intelligenz auf dem Programm. Letztens bat ich ChatGPT um Austrittsschreiben – abwechselnd wegen der propalästinensischen oder proisraelischen Ausrichtung eines Vereins. Manche Ergebnisse klangen recht vertraut. Doch so sehr ich die Maschine dazu antrieb, immer giftiger zu formulieren, ein Wort wie »Wohlfühljuden« spuckte sie nicht aus. Zu solcher Niedertracht sind nur Menschen fähig.

Denn auch das gehörte für uns zu den vergangenen Wochen: dass Leute – darunter in den seltensten Fällen Mitglieder – in den sozialen Medien in einer abstoßenden Weise über meine Mitstreiterin Eva Menasse herfielen. Und ich rede hier nicht von Kritik; ich kenne niemanden, der so wie Eva das Prinzip verinnerlicht hat, dass Meinungsfreiheit kein Recht auf Widerspruchsfreiheit bedeutet. Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines der heutigen Panels ist Poesie eine Lebensform, für Eva ist es der Wechsel von Perspektiven, in ihrem literarischen Schreiben wie in ihrem essayistischen. Doch unerträglich ist es, wenn Leute, deren Vorfahren die Jahre zwischen 33 und 45 anders verbracht haben als Evas, sich zu Zuchtmeistern jüdischer Kolleginnen aufspielen.

Es ist im Übrigen nicht so, das wir nur aus einer Richtung kritisiert wurden. Es gibt auch Menschen, darunter Mitglieder, die uns, also dem Board, im Gegenteil vorwerfen, wir seien zu proisraelisch. Er »positioniere sich klar gegen die Terrorpolitik des israelischen Staates«, teilte uns ein Mitglied in seinem Austrittschreiben mit, welches er mit einer Buchempfehlung abschloss: Falls wir wissen wollten, was in Wirklichkeit in Israel los sei, sollten wir dieses Buch lesen.

Nicht völlig überraschend war es sein eigenes Buch, dass er zur Lektüre empfahl – übrigens erschienen im Piper Verlag. Eine Viertelstunde später erhielten wir die fast identische Mail ein zweites Mal, diesmal mit dem Vermerk »orthographisch richtige Fassung«. Logisch, dieses Dokument wird man einst in Marbach archivieren, wenn nicht gleich im Deutschen Historischen Museum hinter Panzerglas ausstellen. Sie sehen: Manchmal ist es lustig, eine Autorenvereinigung zu leiten.

Ich erzähle diese Geschichte nicht, um gegen diesen nunmehr ausgetretenen Kollegen nachzutreten; sondern weil sie veranschaulicht, was unser täglich Brot ist: Wir stehen keinem politisch heterogenen Verein von Rechtsanwälten vor, wir müssen keine Architektenvereinigung durch eine weltpolitische Krise, noch dazu vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, führen, sondern einen Laden von Literaten, Journalisten und anderen Menschen, die an die Kraft und Bedeutung des geschriebenen Wortes glauben – allgemein und grundsätzlich, aber ganz besonders an die Kraft und Bedeutung des Wortes, das sie selber geschrieben haben.

Fachbegriff: Übersprungshandlung

Sasha Filipenko (li.) und Wolf Iro als Übersetzer

Worte können zu Gewalt aufstacheln oder Gewalt verhindern. Aber ist die organisierte Gewalt erstmal entfesselt, gibt es in der Regel nichts, das Worte ihr entgegensetzen können. Und gerade diese Erkenntnis fällt vielen Menschen des Wortes schwer.

Und vielleicht ist genau das Grund, weshalb eine Autorenvereinigung in einer solchen Lage besonders stark erschüttert wird, unabhängig davon, ob einzelne dabei ihr eigenes Süppchen kochen.

Folgender Effekt lässt sich beobachten: Ganz gleich, ob man beim Wort Nahost zuerst an die israelischen Opfer des 7. Oktober und an die Geiseln der Hamas denkt oder zuerst an die palästinensischen Zivilisten im Gazastreifen, die auf eine andere Weise ebenfalls Geiseln der Hamas sind – man verspürt Anteilnahme. Aber es gibt nichts, was man tun kann.

Bei einem Erdbeben kann man wenigstens spenden. Und auf dem PEN-Berlin-Kongress im vergangenen Jahr haben wir die Kampagne »Feuerwehrautos für Charkiw« vorgestellt, um Geld für Generatoren und andere Hilfsgüter zu sammeln, um diese in die Ukraine zu Serhij Zhadan zu liefern.

Wenn man aber gar nichts tun kann, sucht sich die Verzweiflung Ersatz – das kann produktive Formen finden, aber auch destruktive. Dann arbeitet sie sich gerne an Leuten ab, die greifbar sind: »Was hast du getan, als Israel dem größten Angriff seiner Geschichte ausgesetzt war?« – »Ich bin aus einem e.V. ausgetreten.« Der Fachbegriff lautet: Übersprungshandlung.

Zum echten Problem aber wird es, wenn derlei Übersprungshandlungen die ganze Gesellschaft erfassen. Wie gerade bei den Vorgängen rund um die Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an Masha Gessen. Nachdem sich Bremer Senat und der Heinrich-Böll-Stiftung zurückgezogen haben, findet diese heute in einem kleineren Rahmen statt.

Ich möchte hier auf Gessens Text im New Yorker nicht näher eingehen, stelle aber drei Fragen:

  1. Welchen konkreten Beitrag zur Bekämpfung des Antisemitismus in, sagen wir, Bremen-Tenever erhoffen sich die politisch Verantwortlichen davon?
  2. Sind wir uns sicher, dass alles im Lot ist, wenn Olaf Scholz und Frank-Walter Steinmeier einen Wortführer des globalen Hasses auf Israel, nämlich den türkischen Staatspräsidenten Tayyip Erdoğan, empfangen, ohne dabei auf nennenswerte Kritik zu stoßen, wenn Robert Habeck Deals mit den Hamas-Sponsoren aus Katar abschließt, und Hubert Aiwanger nicht trotz einer Verfehlung aus seiner Jugendzeit, aber trotz seiner Mischung aus Heulsusentum und Kaltschnäuzigkeit, mit er sich selbst zum Opfer stilisierte, stellvertretender Ministerpräsident bleiben kann – während jüdische Intellektuelle wie Masha Gessen oder zuvor Candice Breitz gecancelt werden sollen?
  3. Würden die Parteifreunde des Erdoğan-Gastgebers Scholz und des Katar-Großkunden Habeck im Bremer Senat eigentlich Hannah Arendt den Hannah-Arendt-Preis geben? Kennen sie ihre Kritik an der israelischen Staatsgründung? (Die ich, nebenbei und bei allem Respekt, nicht für der Weisheit letzten Schluss halte.)

Kollektiver Whataboutismus und tätige Verzweiflung

Temye Tesfu auf dem Poetrey Slam »To Bot or Not To Bot?«

Was sich hier einmal mehr zeigt ist, ist die postmaterielle Verschiebung, die vielleicht auch bei der heutigen Veranstaltung »Wie geht woke, wo geht‘s nach links?« Thema sein wird, auf der Susan Neiman, Adrian Daub und Sie, das Publikum, diskutieren werden. Eine durch die digitale Kommunikation zusätzlich verstärkte Verschiebung weg vom politischen und ökonomischen hinzu zum kulturellen und symbolischen Feld. Dorthin, wo die Lösungen einfach, die Effekte krachend und die Kosten niedrig sind.

Diesen gigantischen kollektiven Whataboutismus zu kritisieren, bedeutet nicht, ich hätte Lösungen für komplizierte Fragen der Energie- oder der Integrationspolitik. Aber als PEN Berlin ist unsere Alternative zu reinen Symbolpolitik das, was Rudolf Borchardt mit dem schönen Wort von der »tätigen Verzweiflung« beschrieben hat.

Das möchte ich mit einem behind the scenes aus unserer Arbeit erläutern; anhand eines Beispiels, für das wir ebenso viel Applaus wie Kritik erhalten haben: der Causa Adania Shibli.

Als sich abzeichnete, dass die palästinensische Schriftstellerin nicht wie geplant für ihr Buch »Eine Nebensache« auf der Frankfurter Buchmesse ausgezeichnet werden würde, veröffentlichten wir eine Presseerklärung, mit der wir versuchten, die drohende Absage noch zu verhindern.

Der Satz »Kein Buch wird anders, besser, schlechter oder gefährlicher, weil sich die Nachrichtenlage ändert«, wurde vielfach zitiert. Weniger beachtet hingegen wurde ein anderes Zitat von Eva Menasse aus derselben Presseerklärung: »Nach dem Massenmord der Hamas an hunderten Zivilisten fehlt es auffällig und schmerzlich an palästinensischen und arabischen Stimmen, die diese Verbrechen mit unmissverständlichen Worten verurteilen. Aber damit kritische Intellektuelle dies tun können, darf man sie nicht von vornherein verdächtigen und ausschließen.«

Nur Stunden später wurde die Preisverleihung verschoben, was sich zu einer internationalen kulturpolitischen Affäre entwickelte. Mehrere hundert Schriftsteller, darunter die Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah, Annie Ernaux und Olga Tokarczuk, protestierten dagegen, zahlreiche arabische Autoren sagten ihre Teilnahme an der Messe ab.

»Wir haben ein Problem, Habibi«

Panel »Reden auf schmalem Grat: Israel & Palästina« v.l.n.r.: Elisabeth von Thadden, Yehudit Yinhar, Fadi Abdelnour, Sarah El Bulbeisi, Tomer Dotan-Dreyfus

Eva Menasse und Julia Franck hingegen organisierten für den PEN Berlin eine Lesung aus Shiblis Roman. Natürlich ging es darum, der Literatur einen Raum zu geben; natürlich folgten wir dem Prinzip der Trennung von Autor und Werk, aus dem wir in einer vergleichbaren Situation auch eine Lesung für, sagen wir, Uwe Tellkamp oder Michel Houellebecq veranstaltet hätten. Das ist nämlich unser Job.

Aber auch diese Überlegung, die sich schon in der Presseerklärung fand, spielte eine wichtige Rolle. Der einzige Nichtjude, der an dieser Veranstaltung mitwirkte, war ich. In meiner Einführungsrede wandte ich mich gegen die Behauptung, dass palästinensische und arabische Stimmen nicht gehört würden und sagte: »Was fehlt, sind palästinensische Stimmen – Intellektuelle, Künstler, Aktivisten – die die Wortführerschaft nicht den, ob religiösen oder säkularen Radikalen auf der Straße überlassen. Es fehlt nicht der Satz ›Wir distanzieren uns‹; es fehlt der Satz ›Wir haben ein Problem, Habibi‹.«

(Sie sehen: Auch ich finde das eigene geschriebene Wort nicht ganz unwichtig.)

Diese Lesung war also Geste und zugleich Aufforderung und Einladung an die Adresse arabischer Kolleginnen und Kollegen, Verantwortung zu übernehmen. Aber eine solche Einladung formuliert sich besser, wenn sie nicht im Fräulein-Rottenmeier-Ton daherkommt.

Und das sage ich nicht, weil ich das Problem des Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft, um das es auch gleich im Anschluss auf dem Panel »Problembaklava« gehen wird, für übertrieben halte. Ganz im Gegenteil. Ich denke, diese Gesellschaft hat ein gewaltiges Problem, das sich weder mit dem Verbot von Kleidungsstücken noch mit ausländerrechtlichen Maßnahmen lösen lassen wird. Schulen und andere staatlichen Einrichtungen sind wichtig. Aber ebenso wichtig sind Stimmen aus der Community, die diese Diskussion innerhalb ihrer Community führen.

Es sei »moralisch, historisch und politisch inakzeptabel, für die Sache der Freiheit und der Befreiung Palästinas einzutreten und zugleich die Tatsache, dass der Holocaust stattgefunden hat, in Frage zu stellen oder diesen als eine gesegnete Tat zu betrachten«, schrieb eines unserer vielen arabischen Mitglieder neulich auf Instagram. Natürlich ist sein Blick auf Israel ein anderer als meiner oder vielleicht Ihrer. Aber diese Intervention in einer für das Selbstverständnis dieses Landes so grundlegenden Frage rechne ich ihm mindestens so hoch an, wie er uns die Shibli-Lesung hoch angerechnet hat.

»Auch dafür ist der PEN Berlin da: um im Gespräch mit unseren nicht wenigen arabischen Mitgliedern zu bleiben«, schreibt Eva Menasse in der aktuellen Zeit. Mit Menschen, also, die ihrerseits in Milieus hinwirken können, die beispielsweise für eine österreichisch-jüdische Schriftstellerin aus Wilmersdorf oder für einen deutsch-türkischen Journalisten aus Kreuzberg nicht erreichbar sind. Die Probleme sind unübersehbar. Die Frage ist, ob man versuchen will, zu ihrer Lösung beizutragen.

Nichts Geringeres ist unser Anspruch. Der große Amos Oz, der anders als jüngst behauptet, leider nicht mehr am Leben, sondern vor fünf Jahren verstorben ist, schrieb: »Ein Fanatiker ist ein Mensch, der nur bis eins zählen kann.« Uns ist hingegen ist auch die Zwei zu wenig. Deshalb ist ein Statement oder eine Lesung manchmal mehr als ein Statement oder eine Lesung – und nichts anderes ist mit dem Kongressmotto »Mit dem Kopf durch die Wände« gemeint.

Was wirklich wichtig ist

Deniz Yücel bei seiner Rede

Ich danke Ihnen allen, dass Sie gekommen sind, ich danke der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, Claudia Roth, für die großzügige Förderung dieses Kongresses, ich danke dem Festsaal Kreuzberg für die Gastfreundschaft, Amed Mardin und seinem Team vom Restaurant »Tenur«, dafür, dass wir hier nicht verhungern werden und der Buchhandlung Schwarze Risse für den Büchertisch draußen.

Ich danke allen Mitwirkenden – und allen, die hier hinter der Bühne mithelfen: Meike Dannenberg, Elisabeth Hager, Miku Sophie Kühmel, Andrea Landfried, Kristine Listau, Nikola Mehlhorn, Susanne Stephan, Asmus Trautsch, Stephan Wackwitz, Katrin Weiland, Olivia Wenzel, Florian Werner und Francesca Melandri. Vor kurzem hielt sie noch die Eröffnungsrede auf dem internationalen literaturfestival, heute Nachmittag hat sie eine Stunde Schicht an der Kasse. Grazie, Danke euch allen. Nur so funktioniert der Mitmachverein PEN Berlin.

Und ich danke meinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern aus dem Board und der Geschäftsstelle des PEN Berlin: Alexandru, Jayrôme, Joachim, Jörg, Konstantin, Ronya, Sandra, Simone, Sophie, Stefan, seit gestern auch Dana und Doris, und ganz besonders Eva, deren ebenso brillanter wie störrischer Kopf eine ernste Gefahr ist für jede fest in Erden gemauerte Wand – es ist mir eine Ehre, mit euch so weit zu zählen, wie wir kommen.

***

Noch zwei Programmhinweise: Dirk von Lowtzow musste leider wegen Corona absagen, für ihn dankenswerterweise Elke Schmitter auf dem Panel »Ich, Ich, Ich« einspringen. Und mit dem allergrößten Bedauern müssen wir nun kurzfristig bekanntgeben, dass A.L. Kennedy nicht in Person, sondern nur per Digitalübertragung ihre Festrede halten kann. Ihr wurde in London ihr Rucksack mit allen Wertsachen, inklusive ihrer Ausweise gestohlen. Bis zum späten Freitagabend haben wir gemeinsam mit der Autorin versucht, ihre Reise nach Berlin doch noch möglich zu machen. Es war nicht möglich, provisorische Reisedokumente zu besorgen – das ist wie eine bittere Bestätigung für die prononcierte Kritikerin des Brexit.

Und bevor ich jetzt ich das Wort für das erste Panel an meinen Kollegen aus der Welt, Daniel-Dylan Böhmer übergebe, noch eine Sache, die mir wirklich wichtig ist: Der PEN Berlin lehnt BDS ab.

* Deniz Yücel, geboren 1973, Sprecher des PEN Berlin und Journalist bei der Welt, letzte Buchveröffentlichung: »Agentterrorist– Eine Geschichte über Freiheit und Freundschaft, Demokratie und Nichtsodemokratie« (Kiepenheuer & Witsch, 2019)

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